Von Freddy Sorin
O wie hat sich doch die Welt gewandelt!
Wie ist‘s wohl dort? Fehlen wir nicht?
Es führt dorthin, wo ich geboren,
mich oft der Traum, noch vor dem ersten Tageslicht.
Und in der israelischen Olive
erkenne ich den Baum, den ich als Kind vorm Fenster sah.
Es wog am Tel Aviver Strand
das Meer, das Kaspische, an Land.
Es gibt Träume, die Wirklichkeit werden. Mehr als ein Vierteljahrhundert nach meiner Auswanderung nach Israel besuchte ich die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, wo ich meine erste Liebe traf und eine Familie gründete. Leider war es mir aus sowohl objektiven wie subjektiven Gründen nicht möglich gewesen, früher zu kommen. Auf die Reise begab ich mich zusammen mit dem ebenfalls aus Baku stammenden Maestro Michail Parchomowski, dem Gründer und in verschiedenen Jahren künstlerischem Leiter des Geiger-Ensembles der Moskauer Philharmonie.
Es ist schwer die Gefühle in Worte zu fassen, die einen überkommen, wenn man noch einmal den Hof betritt, auf dem man einst mit Gleichaltrigen Verstecken oder Fußball gespielt hat, wo man zum ersten Mal unter nächtlichem Sternenhimmel das Mädchen aus der Nachbarschaft küsste. Ich gebe zu, ich fühlte mich etwas unwohl, als der Direktor der Schule, an welcher ich zehn Jahre lang lernte, mich als Ehrengast durch die Zimmerräume führte. Übrigens hat an dieser Bildungseinrichtung der 13. Schachweltmeister Gari Kasparow (damals trug er noch den Nachnamen seines Vaters – Weinstein), mit dem ich persönlich befreundet bin, seinen Abschluss gemacht. Natürlich besuchte ich auch den alten, längst geschlossenen jüdischen Friedhof, um mich vor den Gräbern meiner Großmutter und meines Großvaters zu verneigen. Die Denkmäler befinden sich in einem zufriedenstellenden Zustand, obwohl die meisten von ihnen lange nicht mehr von Verwandten gepflegt werden, denn die sind ebenfalls nicht mehr am Leben, oder sehr weit weg.
Die jüdische Bevölkerung der Hauptstadt Aserbaidschans ist seit den 1990ern aus bekannten Gründen erheblich geschrumpft. Wenn man sich die Daten in der Presse anschaut, so emigrierten von 1989 bis 2009 etwa 40.000 Menschen aus Aserbaidschan nach Israel. Baku hat sich verändert, die Atmosphäre ist sehr anders als damals. Und doch ist die Stadt zweifellos schön und attraktiv mit ihren beeindruckenden Wolkenkratzern aus Glasstahlbeton und den restaurierten Bauwerken aus historischer Zeit. Der Rest der Gebäude ging und geht aber durch Abrisse unter, und mit diesen geht auch etwas Bedeutsames, Wertvolles verloren. Man begreift zwar, dass das Alte nun mal vergeht, doch weigert sich manch ein Menschenherz das zu akzeptieren. Machen lässt sich da nichts.
Auch jüdische Bürger machten die Hauptstadt Aserbaidschans groß
Ein Großteil der relativ jungen Vergangenheit bleibt jedoch in der Erinnerung der Einwohner Bakus lebendig. Und ich denke gleich an die alten Straßen- und Rayon-Namen, sowie an die Namen einiger Mitbürger (einschließlich solcher mit jüdischen Wurzeln), die den Stolz dieser Stadt an der kaspischen Küste ausmachen. Da wären zu nennen – der Physiker und Nobelpreisträger Lew Landau, der berühmte Dramatiker Leonid Sorin, die Schriftsteller Eduard Topol und Jewgeni Woiskunski, die Pianistin und Musikpädagogin Bella Davidovich, der legendäre „Kapitän“ der Comedy-TV-Show KWN Julij Gusman und andere. Die Liste ließe sich noch fortführen und ausdehnen auf herausragende Führungskräfte, Ingenieure, Ärzte, Lehrer, Journalisten (darunter mein Vater Nathan Sorin – ein ausgezeichneter Kulturarbeiter, der viele Jahre die Rundfunkredaktion von „Aserbaidschanskoje Radio“ in russischer Sprache leitete). Man könnte unserer Liste auch noch Persönlichkeiten hinzufügen, die zwar nicht in Baku geboren sind, sich aber dennoch als „Bakinzy“ (Menschen Bakus) empfinden, denn so manch einer versteht die Baku-Bewohner als so etwas wie eine eigene Nationalität. Aber das ist eine andere Geschichte.
Jüdische Opfer der Kämpfe in den frühen 1990ern
In Marmor und Granit sind in Baku die Bilder der Helden und Opfer, der Zeugen der tragischen Ereignisse, die sich in der Republik zu Beginn der 1990er Jahre abspielten, gehauen. (In die Geschichte eingegangen sind diese Ereignisse als „Der schwarze Januar“). Da wurde die Stadt, gegen den Widerstand der Volksfront-Aktivisten, von Armeeeinheiten überrannt. Unter den Gefallenen waren auch Vertreter jüdischer Gemeinden. Der Panzerkommandant Albert Agarunov, ein Bergjude, wurde mit dem Titel Nationalheld ausgezeichnet. Eine verirrte Kugel traf die 17-Jährige Vera Bessantina. Und der 32-Jährige Rettungsarzt Aleksander Marchevka wurde getötet, als er einem der Verwundeten während der Straßenschlachten medizinische Hilfe leisten wollte. Mit der Geschichte der Juden in dieser transkaukasischen Republik beschäftigt sich Moisey Bekker aus einer akademischen Perspektive; er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Menschenrechte der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Auch ist er einer von denen, die die Anfänge der Wiedergeburt des jüdischen Lebens in Aserbaidschan, nachdem das Land infolge des Zerfalls der Sowjetunion seine Unabhängigkeit erlangt hatte, mitverfolgten. Seine Doktorarbeit widmete sich dem Thema „Toleranz und Multikulturalismus in Aserbaidschan dargestellt anhand der Teilnahme der jüdischen Gemeinschaft am gesellschaftspolitischen Leben des Landes“. Die Untersuchung präsentiert im historischen Kontext Aktivitäten der Gemeinde der Aschkenasim, der Bergjuden sowie der georgischen Juden. Diese wissenschaftliche Arbeit ist von großem Wert, und sie ist aktuell: der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev erklärte das Jahr 2016 zum Jahr des Multikulturalismus - „zum Zweck einer Förderung der verschiedenen, nebeneinander existierenden Kulturen im Land und derer gegenseitigen Bereicherung“.
Austausch von Gedichten und Kompositionen
Mit der Hilfe von Moisey Bekker wurden für uns, die Gäste aus Israel, zwei kreative Treffen organisiert. Eines davon fand in der Slawischen Universität von Baku statt, wo Lehrer für Philologie, sowie Experten für Geschichte, Kultur, internationale Beziehungen und Recht ausgebildet werden. Unser Gastgeber, Rektor, Doktor der Wissenschaften und Professor Asif Haciyev, bot an auf Kosten der Universität einen literarischen Sammelband herauszubringen, das Werke von gebürtigen Aserbaidschanern, die jetzt in Israel, Amerika, Kanada, Deutschland, Australien und in anderen Staaten leben, beinhalten würde. Maestro Michail Parchomowski und seine Frau, die Pianistin Rita Bobrovich, überreichten als Geschenk an die Universität eine CD mit Musik der berühmten aserbaidschanischen Komponisten Qara Qarayev und Arif Melikov, mit Interpretation eines Violine-Ensembles aus Israel. Und als in der Aula, in der sich mehr als 600 Studenten und Lehrer versammelt hatten, ein Lied von Pawel Dworkin über Jerusalem ertönte, geschrieben nach meinen Gedichten von der Komponistin Regina Fedorenko, erhob sich das Publikum und lauschte stehend der einzigartigen Hymne der heiligen Stadt. Ein aufregender und auch nachdenklich stimmender Moment.
Ein Haus jüdischer Senioren
In warmherziger Atmosphäre verliefen unsere Gespräche mit Schützlingen des erst vor kurzem erneuerten Jüdischen Hauses von Baku, das von Shaul Davydov geleitet wird. Das sind Juden hohen Alters, die Aufmerksamkeit und Unterstützung aller Art benötigen. Und die bekommen sie seitens jüdischer Organisationen wie der Gesellschaft „Israel-Aserbaidschan“, dem jüdischen Wohltätigkeitszentrum „Hesed Gershon“, der Jugendorganisation „Hillel“. Die Stammgäste des Kulturzentrums, die sich im rund um die Uhr bewachten, dreistöckigen Gebäude eingefunden haben, gehen gemeinsam allen Feierlichkeiten des jüdischen Kalenders nach, lauschen den Vorträgen zu für sie interessanten Themen, treffen sich mit interessanten Leuten. (…)
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