Eine der Folgen der Oktoberrevolution war das autonome jüdische Gebiet Birobidschan  

Oktober 6, 2017 – 16 Tishri 5778
An den Ufern der Bira und des Bidschan

Von Juri Baklanow

    Die große Oktoberrevolution (begannen am 25. Oktober 1917 nach dem julianischen; am 7. November nach gregorianischem Kalender) feiert dieses Jahr ihr 100-jähriges Jubiläum. Die Geburt einer gewaltigen kommunistischen Welt auf der einen, der Beginn von Verfolgung und Deportation andersdenkender, andersstämmiger und andersgläubiger Bürger des eigenen Staats auf der anderen Seite. Den beschwerlichen und dennoch interessanten Alltag in einer besonders abgelegenen Provinz des Sowjetreiches beschrieb der Journalist Juri Baklanow.

    Juri Baklanow gehörte der sogenannten Sobkorow-Gruppe an, einem der mit Abstand aktivsten und erfahrensten Kader des sowjetischen Journalismus. Einer, der das wahre Leben kannte. Viele Jahre arbeitete Baklanow im Gebiet Lipezk als Korrespondent der Zeitung „Selskaja Shisn“ (Das Landleben); und zuvor in den 70er Jahren war er Mitarbeiter der Zeitung „Tichookeanskaja swesda“ (Stern des Pazifischen Ozeans) in der Region Chabarowsk im Jüdischen Autonomen Gebiet, welches zu der Zeit noch keine Autonomierechte genoss, und Teil der Region von Chabarowsk war. Baklanows Erinnerung an das Leben dort sind ein spannendes Stück sowjetischer Geschichte.

    Aus den Notizen des Journalisten:

    „Hier gedeihen ja Melonen!“
    Viele glauben, der Name der Hauptstadt, Birobidschan, sei jüdischen Ursprungs. Dem ist nicht so. Nach einer Verbindung der Station Tichonka mit der Transsibirischen Eisenbahn, verlieh man der Stadt einen Namen aus zwei zusammengesetzten Begriffen aus der Sprache der Ewenken (Ureinwohner Sibiriens): „Bira“ steht für Fluss und „Bidschan“ für Dauersiedlung. Die Bira fließt übrigens geradewegs durch die Stadt, während der Fluss Bidschan parallel verläuft und sich mehr in westlicher Richtung befindet. Beide fließen aber in den Amur.
    Das Jüdische Autonome Gebiet besteht aus nur 5 Rajons (etwa vergleichbar mit deutschen Landkreisen). Ich kann sagen, dass ich in meiner kurzen Arbeitszeit nur zwei kleine Dörfer am Amur nicht besucht habe. Alle anderen bin ich wirklich zigmal abgefahren.

    In der Kosakensiedlung Michailo-Semjonowskaja (später Blücherowo, und nach der Ermordung des Marschalls Wassili K. Blücher schließlich Leninskoje) rief am 5. August 1923 der sogenannte „Älteste der Union“ Michail Kalinin (Vorsitzender des Allrussischen zentralen Exekutivkomitees der Sowjets), nachdem man ihm eine Garbe Weizen und eine Wassermelone überreicht hatte: „Oh, hier gedeihen ja auch Melonen!“ Und später auf einer Kundgebung sprach er die Worte aus, die in die Geschichte eingingen: „Dies ist ein großes, freies, fruchtbares Land, auf das kein anderes Volk, außer das jüdische, Anspruch hat.“

    So war über das Schicksal der hart arbeitenden Juden entschieden worden, die in der Ukraine und in Weißrussland Handwerker gewesen waren, aber durch die Verwüstung nach dem Bürgerkrieg ohne Beschäftigung dastanden. Und so entschied man sich, aus ihnen Ackerbauern zu machen. Aber anstatt die Krim zu wählen, wo sich die arbeitslosen Juden niederzulassen wünschten, waren viele dazu bestimmt, sich zwischen der Bira und Tunguska anzusiedeln. Immerhin war dieses Land von Professor B. L. Bruk nach genauerer Untersuchung als für die Landwirtschaft geeignet eingestuft worden. Die Wissenschaftler sprachen sogar von günstigen Bedingungen für den Reisanbau.

    Der Beitrag der Kosaken
    Doch zuvor hatte man in dem Gebiet Transbaikalien-Kosaken angesiedelt. Ich finde, dass das eine vernünftige Entscheidung der Zaren-Regierung war die Grenzgebiete den Kosaken zu geben. Einige von ihnen ließen sich an den südlichen Grenzen nieder, widmeten sich der Landwirtschaft wie der Viehzucht und schützten gleichzeitig die Grenzen des russischen Staats, andere eigneten sich neue Landesteile Sibiriens und des Fernen Ostens an. Wie es der Dichter Michail Lomonossow einst schrieb: „Der Reichtum Sibiriens wird Russlands Macht mehren.“ Und so geschah es auch. Wo wäre unser Land denn ohne Öl und Gas aus Sibirien, ohne die Wälder, das Gold und die Pelzarten? Bei der Einnahme dieser Weiten spielten die Kosaken eine bedeutende Rolle. Man benötigte keine speziellen Truppen, die Kosaken allein waren geeignete Grenzhüter. Jeder junge Kosake von 16 Jahren musste bereits ausgestattet sein mit einem Pferd, einem Schwert und einem Gewehr, musste lernen mit diesen gut umzugehen. Im Gegenzug hatten die Kosaken vollsten Einfluss auf ihre Territorien, einschließlich der fischreichen Flüsse.

    Allein mithilfe der Region Transbaikalien waren in wenigen Jahren vier Holzschwemmanlagen (Flößerei) der Kosaken am Amur ins Leben gerufen worden. Besonders viele Kosakensiedlungen und Dörfer, aber auch zukünftige Städte wie Blagoweschtschensk und Chabarowsk sind im Jahre 1858 gegründet worden; benannt nach Kosakenführern und Forschern. Neben den Kosaken siedelten sich auch einfache russische Bauern an. Darüber schrieb Nikolai Sadornow (Vater des Satirikers Michail Sadornow) in seinem Roman „Amur-batjuschka“ (deutscher Titel: Väterchen Amur). Auch der Roman „Amurskije wersty“ von Nikolai Nawolotschkin schildert diese Geschichte. 

Viele Dörfer im Jüdischen Autonomen Gebiet tragen Namen zu Ehren des Kosakengenerals Kukel. Das Dorf Paschkowo – benannt nach dem Familiennamen eines Heerführers aus Nertschinsk, Pusino – ein Dorf nahe des Rajonzentrums (Kreisstadt) Amurset – ist nach dem Stabschef der Truppen der Transbaikalien-Kosaken benannt, und die Dörfer Pojarkowo sowie Deschnjewo, nun ja, das braucht man bei uns nicht zu erläutern (Pojarkow und Deschnjew sind beide bekannte Kosaken-Atamane und Entdecker gewesen). Die große Kosakensiedlung Jekaterino-Nikolskoje trägt ihren Namen zu Ehren der Gattin des General-Gouverneurs Ostsibiriens, Graf Nikolai Nikolajewitsch Murawjow-Amurski.

    Juden in der Taiga
    Zur Besiedlung des Fernen Ostens trug auch der Bau der Transsibirischen Eisenbahn bei. In Vergessenheit geraten ist der große Einsatz des Grafen Sergej Witte bei diesem Vorhaben. In der Sowjetära organisierte das KomSET (Komitee für Bodenbewirtschaftung der jüdischen Arbeiter) unter der Leitung von P. G. Smidowitsch die Umsiedlung von Juden an die Ufer der Bira und des Bidschans. Zunächst wurde der „Birobidschanische Nationalkreis“ gegründet, dann im Jahre 1934 in „Jüdisches Autonomes Gebiet“ umbenannt. In diesem Zusammenhang sind auch die neuen Namen zu erklären: Waldheim, Birofeld, Naifeld, Stalindorf, Stalinfeld. Die beiden Letzteren sind mittlerweile von der Karte verschwunden. Stalinsk, die ehemalige Kreisstadt nahe des Oktjabrski Rajons, ist buchstäblich weggespült worden. Zerstört durch eine starke Überflutung im Jahre 1951. Die neue Kreisstadt wurde Amurset. Doch auch während meiner Tätigkeit blieb die Zahl der Juden hier wie auch im benachbarten Pusino sehr gering. Eine der besten Schriften über das heikle Leben der Siedler bilden die Essays des Schriftstellers Viktor Fink „Jewrei w taige“ (Juden in der Taiga). Offenbar findet sich in seinem Werk eine Menge an Wahrheiten, denn von der Wissenschaftlichen Bibliothek Chabarowsk war es mir nur durch die schriftliche Zustimmung der Behörden möglich gewesen, es zu bekommen. Zensur eben.

    Ein Heim im Walde
    Die Korrespondenten des Jüdischen Autonomen Gebiets mussten natürlich ganz genau über ihre Unternehmungen in allen Regionen Auskunft liefern. So schrieb man über das Kombinat „Chinganolowo“, über das Zementwerk Teplooserski und das Londokowski-Kalkwerk. Des weiteren über die Steinbrüche aus Birakan, deren Marmor einst nach Moskau zur Verzierung der Metrostation Komsomolskaja befördert wurde, und auch über die Holzverarbeitungsanlage Tunguska im Rajon Smidowitsch, die die Dörfer mit Fertighäusern ausstattete. „Dalselmasch“ war der einzige Betrieb in der ehemaligen Sowjetunion, in dem Erntemaschinen mit Raupenfahrwerk speziell für den Einsatz auf klatschnassen Feldern gefertigt wurden. Dieser Monsunregen in Fernost war dafür der Grund. Bemerkenswert dabei ist nur: Während die Erntemaschinen für den Export in separaten Werkhallen mit 50 Maschinen pro Monat und einer gründlichen Prüfung angefertigt wurden, bekamen die eigenen Leute solche vom Fließband. Ganz nach dem Motto: Wird schon laufen.

    Amerikanische Juden spendeten für sowjetische Juden
    Die meiste Zeit musste ich auf Feldern und Bauernhöfen verbringen. Besonders gut gefiel es mir in der Kolchose Sawety Iljitscha im Rajon Birobidschan, den der ehemalige Mitarbeiter des Militärnachrichtendienstes und „Ritter des Ruhmesordens“ Wladimir Israilewitsch Peller leitete. Die Kolchose mit ihrer Kreisstadt namens Waldheim, hatten die Siedler aus der Ukraine, Weißrussland und aus Kasan (Tatarstan) gemeinsam aus dem Boden gestampft. Man schuftete in den Wäldern, hauste in Erdhütten, bearbeitete das wilde Land. Einen Teil der technischen Ausrüstung beschaffte die große wohltätige und jüdische Organisation „Joint“ aus Amerika. Einer der bekanntesten Vorsitzenden der Kolchose in Waldheim war der junge Emmanuil Kasakewitsch, Sohn des ersten Redakteurs der Zeitung „Birobidschaner Stern“ Heinrich Kasakewitsch. Auch Emmanuil hat vor dem Krieg bei diesem Blatt gearbeitet.

    Wladimir Peller – ein besonderer Mann
    Zum Erfolg in Waldheim kam es aber erst dann, als Wladimir Peller zum Leiter gewählt wurde. Dieser Mann ist, ohne zu übertreiben, durch die Hölle gegangen. Jung war er aus der Ukraine nach Amurset in die Kolchose Roiter Oktjabr gekommen. Wie mir die Alten im Dorf Pusino erzählten, fuhr Peller die erste Zeit nur mit dem Traktor durch die Gegend, konnte mit dem nicht mal gut umgehen. Doch war er ein so kräftiger Kerl, dass es für ihn ein Leichtes war so einen dreischarigen Beetpflug zum Traktor zu schleppen. Peller schuftete wie ein Ochse. Er hasste Ungerechtigkeit, und wurde so nach nur wenigen Monaten von den Kolchosbauern zum Vorsitzenden gewählt. Als der Krieg begann, meldete er sich als Freiwilliger. Schon 1941 zog er sich die erste Verwundung zu. Sein Regiment hielt sich zwei Monate bei Odessa. In Stalingrad – nun als Oberstabsfeldwebel (Starschina) – stürmte er ein dreistöckiges Gebäude. Ohne Waffen kam er gegen vier Deutsche an. Er nahm sich zwei auf einmal, ließ ihre Köpfe gegeneinanderschlagen und beförderte dann die leblosen Körper aus dem Fenster. Zwei Wochen lang verharrten sie bei diesem Gebäude, das die Frontsoldaten „das Peller-Haus“ tauften. Trotz seiner schweren Verletzung am Bauch überlebte er.

    Man wollte ihn vom Wehrdienst befreien, doch blieb er fest entschlossen weitermachen zu können. Er trat seine Stelle beim Nachrichtendienst an, brachte es auf 18 Gefangene, die bereit waren Informationen preiszugeben. In der Offensive kroch er zu einem Bunker, bewarf diesen mit Panzerabwehrgranaten und zerstörte so feindliche Maschinengewehre. Der Ruhmesorden III. Klasse wurde ihm verliehen. Dem folgten noch zwei weitere. Und eine Kopfverletzung.

    Nach seinen Kursen für Vorsitzende kehrte er in seine Kolchose zurück. Doch man verlegte ihn in das benachbarte Dorf Jekaterino-Nikolskoje. Nachdem er die Abgabe von mehr Getreide, als es anfangs vereinbart war, verweigert hatte, nahm man ihn fest. Dank der Einmischung eines Abgeordneten des Obersten Sowjets der UdSSR ließ man ihn laufen. Aufgrund des Vorfalls aber landete er im Rajon Birobidschan. So begann er sich der Sowchose Nadeschdinski zu widmen.

    Wieder kam es zu einer Auseinandersetzung. Der Streit eskalierte so sehr, dass Peller den Obersekretär des Landkreiskomitees von einer Fähre, die über die Bira fuhr, ins Wasser schubste. Seine Abzeichen bewahrten ihn vor einer erneuten Festnahme. Er arbeitete als Leiter in Naifeld, doch kamen bald Abgesandte aus Waldheim. Drei Tage dauerte die Besprechung an. Und trotz der Proteste des Landkreiskomitees der KPdSU wurde er zum Vorsitzenden gewählt.

    „Helden der Sozialistischen Arbeit“
    Erst da begriff ich, wie gut jüdische Traktoren- und Mähdrescherfahrer arbeiteten. Das Rückgrat der Mannschaft waren die drei Rak-Brüder. Boris Rak wurde später Vorsitzender. Eine Maria Jossifowna Pokatylo, die Vorarbeiterin des Landwirtschaftsbetriebs in Pronkino, erreichte die besten Erträge im Gebiet. Zusammen mit dem Vorsitzenden wurde sie mit dem Titel „Held der Sozialistischen Arbeit“ ausgezeichnet. Riwa Jewsejewna Wischtschinikina, Vorarbeiterin aus dem Bereich Gemüseanbau, wurde zur Abgeordneten des Obersten Sowjets der UdSSR gewählt, während man ihre Gruppenleiterin Maria Petrowna Brachmanowa ebenfalls mit dem Titel „Held der Sozialistischen Arbeit“ auszeichnete.

    Manchmal wird geschrieben, dass alte Leiter kein Gefühl für die Marktwirtschaft hätten. Peller beherrschte sie noch vor den Marktreformen. Von 400 Hektar Kartoffel kamen bei ihm auf 100 Hektar eine Sorte frühreifer Kartoffeln plus Bewässerung. Während die anderen auf ihre Knollen warteten, grub Peller seine Frühreifen schon im Juli aus und verkaufte sie für 40 Kopeken pro Kilo statt für 10 Kopeken im September.

    In der Sowchose Nadeschdinski war man neidisch auf seine Nachbarn. Der Direktor W. D. Rotosejew kannte neben dem Gerede über irgendwelche Pläne nur Beschwerden. Eines Tags musste ich hier wegen der Ankunft des Vorsitzenden des Chabarowsker Regionalkomitees Grigori Jefimowitsch Podgajew die Nacht verbringen. Er fragte mich nach meinen Eindrücken und erzählte dann von einem Scherzreim, den ein paar aufgedrehte Mädels auf einer Theaterbühne vorgetragen hatten. Die Sowchose Nadeschdinski war dabei ein wenig aufs Korn genommen worden.

    Irgendwie bin ich mir sicher, dass mit Peller die Kolchose überlebt hätte. Gemüse, Kartoffeln, Milch, Soja – das wird immer gebraucht. In Waldheim verstand man sein Handwerk. Aber ein Mensch lebt eben nicht ewig. Irgendwann macht auch der kräftigste Körper schlapp. Vor allem dann, wenn sein Innerstes schwer verwundet war.
    Im regionalen Krankenhaus lag ich nur wenige Betten von Wladimir Israilewitsch Peller entfernt. Als in der Nacht die Ärzte und Krankenschwestern hektisch rum zu rennen begannen, beschwerte sich Dr. Brandt, Doktor der Medizin und Lungenchirurg, lautstark darüber, dass man ihn nicht geholt habe als es Peller so schlecht geworden war. Brandt versicherte, er hätte Wladimir retten können, hätte eine Operation vorgenommen, solche seien ihm noch aus Kriegszeiten bekannt und nichts Neues gewesen.
    Mein ehemaliger Kollege von der Zeitung „Birobidschaner Stern“, der Schriftsteller Roman Schoichet, der später in Israel seine letzte Ruhe fand, erzählte mir, dass als er mit Peller die Uferstraße entlang und am Gebäude des Regionalkomitees der KPdSU vorbeiging, Wladimir mit dem Zeigefinger auf das Weiße Haus deutete und sagte: „Da hat man mir mehr Blut ausgesaugt, als ich an der Front verloren habe.“
    In neuerer Zeit zerfiel die Kolchose in ein paar Bauernhöfe. Doch das, was vom Vorsitzenden in Waldheim geschaffen worden ist, dient den Leuten noch heute: ein Rajon-Krankenhaus, ein Rajon-Kulturhaus, ein Rajon-Museum, zwei Schulen, eine Musikschule für Kinder, eine große Bibliothek, eine Wohnungs- und Gemeindeverwaltung und natürlich Einkaufsläden.

    Frost und Wind
    Häufig pendelte ich zwischen den Zentren der großen Rayons Oktjabrski und Leninskoje hin und her. Im Winter stieß man auf eisige Kälte, im Sommer auf Hitze und Pollen ohne Ende. Auf der Strecke von Birobidschan zum Amur endeten die asphaltierten Wege nach 40 Kilometern in Birofeld. Nun folgten Kies und Staub. Ob heutige Journalisten solchen Belastungen getrotzt hätten, frage ich mich? In einem kleinen halb zugefrorenen Minibus fährt man acht Stunden bis Amurset. Die Scheiben sind vereist. Auf halber Strecke, den Daurischen Hügel erklommen, landen wir im Dorf Bidschan. Hier gönnen wir uns ein Mittagessen in einer Kantine mit Kohlsuppe und Frikadellen. Endlich taut man wieder auf. Danach erneut diese mutlosen Weiten mit den verschneiten Feldern, und mit der Hoffnung, dass die Hotelzimmer in Amurset schön warm sind, wenn wir ankommen.

    Bei minus 44 Grad im Hotel mit den undichten Fenstern
    Das war nicht immer der Fall. Auf eine Beschwerde aus der Sowchose Smidowitschski hin, stieg ich am Abend an der Station Yin aus und begab mich, begleitet von stürmischen Winden, ins fast nagelneue Hotel der Kreisstadt Smidowitsch. Ja, trotz später Stunde bekam ich ein Zimmer. Die Fenster undicht, ich schlief in meinen Klamotten. Mit der Mütze auf dem Kopf. Rumwälzen konnte ich mich wie ich nur wollte, und trotzdem nervte der Wind aus den undichten Spalten. Draußen waren es minus 44 Grad, im Zimmer 8 und ebenso windig. Nach dem Zittern und Bibbern bis 3 Uhr morgens stand ich endlich auf und begab mich in der Dunkelheit ins Dorf Pestschanoje. Zwar sind es bis dahin nur drei Kilometer, doch darf man dabei den frostigen Wind nicht vergessen. Ein Segen, dass mir mein Schwiegersohn, ein Rennfahrer, französische Pelzstiefel geschenkt hatte, die meine Beine warmhalten sollten. Aber zu früh gefreut. Nach gut einem Kilometer nahe einer Milchfarm rissen die Sohlen der schönen Stiefel auf. Dem Frost Sibiriens waren sie nicht gewachsen. Sehr schade drum. Ich beschloss den Milchmädchen beim Transport von Kohle unter die Arme zu greifen. Als Gegenleistung erhielt ich vom Leiter was Passenderes zum Anziehen.

    Die Schneestürme machten einen fast blind
    Manchmal ließ einem der Monsunregen am Ende des Sommers keine Zeit, die Sojen von den Feldern zu räumen. Ich kann mich erinnern, dass man noch im Dezember die Ernte fortsetzte. Und der Obersekretär des Regionalkomitees der KPdSU, A. K. Tscherny, bekam – man mag es kaum glauben – von irgendjemanden die Mitteilung darüber, dass Arbeiter aus der Abteilung Kwaschnino der Sowchose Deschnjewski einen Rekord im Dreschen erzielt hätten. Und das unter Scheinwerferlicht. Sofort sandte man mich aus Bidschan zu den Rekordhaltern. Per Anhalter, auf der Rückbank eines wahren Rasers hockend, kam ich an. Ich unterhielt mich ein wenig, hab mit den Leuten Tee in einem Trailer getrunken. Zu später Stunde ging‘s dann die zwanzig Kilometer wieder zurück. Die Schneestürme machten einen fast blind. „Der Wind im Gesicht, und dennoch quatsche ich“, wie es die Band Ljube ausdrückte. Manchmal hielt ich ihn nicht aus, lief mit dem Rücken voran, kam aber vom Weg ab. Nicht ein einziges Scheinwerferlicht. Da endlich. Zwei Lastwagen. Vergebens. Nun ja, wer würde mich denn auch mitnehmen wollen? Nachts nahe der Grenze.

    Stehen zu bleiben und eine Rast einzulegen ist nicht ratsam. Zu groß ist die Gefahr, wie ein Straßenköter zu erfrieren. Und so schritt ich weiter voran. Um Punkt 1 Uhr nachts erreichte ich die Herberge in Bidschan. Dank des örtlichen Sowchose-Leiters Iwan Grigorjewitsch Lewkowski, brachte man mir einen elektrischen Wasserkocher, ein Laib Roggenbrot und Zucker aufs Zimmer. Ich aß, taute auf und feilte bis 3 Uhr an meinem Text. Die Situation erinnerte mich an unsere Helden in Deschnjewski mit ihrer winterlichen Soja-Ernte. Am Morgen diktierte ich der Stenographin meine Arbeit aus dem Büro.

    Ein fast unmöglicher Boden
    Derartige Ereignisse kommen oft vor. Doch ich erinnere mich auch an einen Winter, als es bis April nicht geschneit hat. Die Erde bekam sogar Risse wie in einer Wüste. Statt Schnee- ein paar Sandstürme. Und das hier im Winter! Auf den Feldern bleibt der Schnee nicht liegen, er schmilzt und fließt unter der Sonne als fröhlicher Bach dahin. Hier sät man kein Wintergetreide, es gefriert. Im Frühling bemüht man sich schnell Weizen und Gerste über dem Auftauboden zu säen. Wenn dieser auf nur 6-8 cm abgetaut ist. Weiter unten findet sich meterlanger Permafrostboden. Wem das alles gut gelingt, der hat Brot in seinen Händen. Bis Mai gelangt man nicht mehr auf die Felder. Als Helden galten diejenigen Traktoren- und Mähdrescherfahrer, die an den besonders sonnenreichen Plätzen solche gut aufgetauten Portale sicherstellten, dann ordentlich die Egge festmachten und danach gleich die Sämaschine zum Einsatz brachten. So einige dieser Helden haben wir interviewt.

    Im Rajon Oktjabrski bei dem Dorf Polewoje sammelten sich sieben von unseren Zeitungs-, Radio- und Fernsehreportern. Die vom Fernsehen waren sogar via Charterflug aus Chabarowsk angereist. Alle sammelten sich um das Aggregat „Belarus“ (Weißrussland). Es zog eine Sämaschine, die an anderen Stellen mit ihren Pflugmessern auch noch das Eis aufkratzte. Der Korrespondent des regionalen Rundfunks, Naum Aisman, mit dem man öfters mal aufs Feld hinausgefahren war, bemerkte nachdenklich: „In diesem Frühling hat die Aussaat eine Woche früher angefangen. Wenn das so weitergeht, wird man bald im Januar säen. Wie viel Zeit haben wir doch mit diesem Geschwätz von der Verehrung des Arbeitsenthusiasmus vergeudet, als man die Hektare zum Aufpflügen, die Saat und die Ernte als wichtigsten Hauptindikator für den Erfolg eines Arbeiters oder die Wirtschaft ansah, und nicht so sehr die Erträge und den Gewinn. Im Grunde haben wir viel Unsinn geschrieben, nur um ein paar Seiten in der Zeitung zu füllen. Verschlungen habe man ja unsere Blätter, so haben es uns die Parteichefs versichert.“

    Und es blieb bei 1 %
    Als das neue Russland einen angeblich demokratischen Kurs anzustreben begann, war Israel bereit dem Jüdischen Autonomen Gebiet unter die Arme zu greifen. Einen internationalen Flughafen wollte man bauen, in den Aufbau investieren, die jüdische Kultur fördern. Doch auf den Vorschlag „Wir kommen zu euch“ antworteten die Einwohner eher mit „Nein, wir kommen zu euch!“. Ab 1994 wanderten innerhalb von vier Jahren 15.000 Juden aus dem Autonomen Gebiet nach Israel aus. In den besten Jahren hatten hier um die 20.000 Juden gelebt. Während meines Aufenthalts stellten sie in Birobidschan 20 % der Einwohner, im gesamten Gebiet nur 12 %. Nun leben hier knapp über 1.500, also nur noch 1 %. Die Bezeichnung „Jüdisches Autonomes Gebiet“ hat demnach mehr eine geographische, denn eine nationale Bedeutung. Schwer zu glauben, dass sich die fleißigen Juden für das Land in Fernost nochmals begeistern werden.

    Übersetzung vom Russischen ins Deutsche: Edgar Seibel

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