Bei den bevorstehenden Wahlen im zweitgrößten Land Europas treten auch jüdische Kandidaten an. 

April 5, 2019 – 29 Adar II 5779
Alpinismus auf dem Olymp von Kiew

Von Alexander Kumbarg

Das delikate Thema der jüdischen Präsenz in den höchsten Rängen der ukrainischen Regierung ist nach wie vor aktuell. Dies wird sogar von beliebten Satiresendungen aufgegriffen. Der „Abendblock“ (Anmerkung: ukrainische Show, Vetshernij kvartal) spricht über eine „Synagoge von Winnyzja“ in der Regierung und in der „Diesel-Show“ wird davon gesprochen, dass der Anwärter auf den Posten des Premierministers sich stark um einen israelischen Pass bemühen würde.

Fedor und Abraham

Mitte der 1990er Jahre gab es in Odessa ziemlich harte Bürgermeisterwahlen. Es gab zwei Hauptkandidaten: der eine ein Jude, der andere ein Russe. Bekannt war es, dass der Hauptsponsor der Wahlkampagne des russischen Anwärters ein ortsansässiger Oligarch jüdischer Herkunft war.

Zum Bürgermeister wurde letztendlich der jüdische Kandidat gewählt. Später wurde der Oligarch gefragt, weshalb er den Opponenten unterstützt hatte. Seine Antwort fiel interessant aus: er sagte, er wollte nicht, dass das Oberhaupt der Stadt ein Jude wird, und damit Wutbürger, die mit dessen Politik nicht einverstanden sind, anfangen die „Nationalität des Bürgermeisters“ verantwortlich zu machen und damit gleichzeitig auch andere Juden für schuldig zu erklären.

Wenn Fedor geklaut hat, dann hat Fedor geklaut. Aber wenn Abraham geklaut hat, dann hat ein Jude geklaut. Die Klassik des Antisemitismus, welcher viele in ihrer Weltanschauung folgen.

Politische Gowerla

Selbstverständlich ist es schön zu realisieren, dass es in der Ukraine einen Premierminister mit dem Nachnamen Grojsman geben kann. Dies ist unbestreitbar ein großer Erfolg der Toleranz, von der insbesondere zum Ende der UdSSR niemand zu träumen gewagt hätte.

Erlaubt“ ist es den Juden auch in die große Politik zu gehen und auch hochrangige Beamtenposten einzunehmen. Einige haben es „bis zur Mitte des Dnjeprs geschafft“ und haben die politische Gowerla (höchster Berg der Ukraine) erklommen.

Bereits „unter Krawtschuk“, dem ersten Präsidenten, gab es den stellvertretenden Minister Swjahilskyj und den Vize-Premier Joffe.

Und dann ging´s los. Juden findet man unter Vizepremiers, Ministern, Sprechern und Abgeordneten der Werchowna Rada, Oberhäuptern von Regionaladministrationen und Bürgermeistern. In den letzten Jahren ist der jüdische Faktor besonders auffällig geworden. „Auffällige“ Läufer sind auch beim jetzigen Marathon um die Präsidentschaft anzutreffen. Doch sollten Juden jetzt auf die Posten des Präsidenten und Minister abzielen?

Es gibt keine Erfolgsbeispiele

Es ist kein Geheimnis, was das ukrainische politische System darstellt. Die Klepto- und Plutokraten in den „oberen Rängen“ sind über die Grenzen des Staates hinaus bekannt. In die ukrainische Politik geht man, um eigene Fragen zu klären, nicht um sich den Interessen des Landes zu widmen. Juden, die in der großen ukrainischen Politik voranschreiten, sind, um es nett auszudrücken, nicht die besten Vertreter der ukrainischen jüdischen Gemeinde. Im Verlauf von fast 28 Jahren der unabhängigen ukrainischen Politik wurde kein einziger Jude zum Vorzeigebeispiel einer erfolgreichen Politik. Ebenso wurde auch kein anderer Vertreter einer anderen Nationalität zu einem erfolgreichen Politiker. Dies ist in der gegenwärtigen Situation auch schier unmöglich, wo Engagement grundsätzlich nichts Positives hervorbringen kann.

Die aktuellen Wahlen sind übrigens durch eine Besonderheit gekennzeichnet: durch die Kandidatur eines „Menschen aus dem Volke“ – des berühmten Komikers Wolodymyr Selenskyj. Umfragen zeigen seine guten Werte. Die einen nennen ihn den „ukrainischer Trump“, die anderen erinnern sich an den Schauspieler Reagan.

Sein Vorteil ist sein „neues Gesicht“, das nicht mit Diebstahl, Korruption und politischen Spielen befleckt ist. Sein Nachteil ist, dass er keine Erfahrung in der Politik hat, und sich nicht durchdachte Äußerungen und andere Patzer geleistet hat. Das Wichtigste allerdings ist die Frage nach der Unabhängigkeit von Selenskyj, denn man vermutet, dass er eine Marionette des Oligarchen Igor Kolomojskyj sein könnte.

Die Chancen, dass Selenskyj das Rennen um die Präsidentschaft gewinnt, sind gering. Angenommen, dieser Fall würde eintreten – könnte er dann zu einem neuen Typus der ukrainischen Politik werden? Im derzeitigen System könnte das auf jeden Fall nicht geschehen – dieses würde ihn einfach schlucken.

Besondere Nachfrage

Die Juden werden in der Gesellschaft mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Vielleicht wird ja jemandem etwas verziehen, doch „im jüdischen Fall“ wird ganz bestimmt nichts verziehen und vergessen. Ein Teil der Gesellschaft verfolgt recht inbrünstig das Antlitz und die Nachnamen bekannter Politiker. Der häusliche Antisemitismus ist selbstverständlich nirgendwohin verschwunden.

Letztes Jahr hatte ich die ukrainisch-polnische Grenze über den Fußgängerübergang passiert, und bin daraufhin mit dem Bus Richtung Lviv (Lemberg) gefahren. Neben mir saß ein Herr im Rentenalter aus der Region Lviv und beklagte sich über das Leben. Der Betrieb, in dem er gearbeitet hatte, wurde geschlossen und nun ist er genötigt, in Polen ukrainische Zigaretten und Alkohol zu verkaufen. Ich hörte ihm zu, nickte teilnahmsvoll mit dem Kopf, machte Einwürfe. Ein normales ruhiges Gespräch. Auf einmal schoss mir ein Gedanke in den Kopf: es wurden keine ethnischen Themen angeschnitten, doch ich hatte das Gefühl, das dies gleich losgehen würde. Gewollt oder ungewollt habe ich mein Gegenüber provoziert, indem ich anfing über die schlechte Regierung zu sprechen, welche sich nicht um das Wohl des Volkes bemüht. Er hat schnell meine Befürchtungen bestätigt, indem er sagte, Poroschenko sei ein Jude und damit sei alles erklärt. Hervorragend…

Ich erinnerte mich an ein anderes „Ereignis aus dem Leben“, welches sich vor 15 Jahren abspielte. Ich stand auf einer Straße in Kiew und wartete auf einen Gefährten. In der Nähe fegte ein Hausmeister. Er hob vom Bürgersteig einen Wahlflugblatt auf, begutachtet dieses und kam auf mich zu. „Und er möchte, dass man ihn wählt?!“, sagte er und zeigte auf dem Flugblatt ein Foto mit einem im Land bekannten jüdischen Politiker. „Als ob Hitler sie nicht genug getötet hätte…“

Menschen, die auf solch eine Art und Weise in der Ukraine urteilen, gibt es mehr als genug. Es reicht, Kommentare in den sozialen Netzwerken oder einige Publikationen zu lesen, um sich die Situation gut vor Augen führen zu können.

Es machen Gerüchte die Runde“

Ein xenophober Bürger schreibt oftmals Judentum auch denjenigen zu, die damit gar nichts zu tun haben. Und wenn es gelingt, innerhalb der Familie eine jüdische Uroma oder einen jüdischen Großonkel ausfindig zu machen, dann war’s das. Damit zählst du automatisch zu den 100-prozentigen Juden, mit allen daraus resultierenden elektoralen Einbußen.

Es gab bisher noch keinen Präsidenten, über dessen angeblichen jüdischen Wurzeln die Gerüchteküche nicht moussieren würde. Es werden „echte“ Nachnamen erfunden, es werden jüdische Verwandte, Ehefrauen aufgefunden. (…)

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