Vor 70 Jahren starb die berühmte jüdische Frauenrechtlerin aus Berlin  

September 6, 2018 – 26 Elul 5778
Alice Salomon: Eine herausragende Sozialreformerin

Von Martin Stolzenau

Alice Salomon hatte eine jüdische Herkunft, konvertierte aus beruflichen Gründen 1914 zum evangelischen Glauben und erlangte mit ihrem jahrzehntelangen Engagement als Frauenrechtlerin und Sozialreformerin internationale Bekanntheit. Sie stand in der Tradition der englischen Sozialphilosophie Thomas Carlyles sowie John Ruskins, entwickelte ein sozialreformerisches Konzept für die weibliche Emanzipation und kollidierte dabei zunächst mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in der Weimarer Republik und dann extrem mit der Orientierung der Nazis.

Wegen ihrer jüdischen Herkunft, ihrer Sozialarbeit im humanistischen Sinne und ihrem offenen Pazifismus wurde sie von den Nazis verfolgt und ins Exil gezwungen, wo sie vor 70 Jahren verstarb. In der Bundesrepublik wird inzwischen in mehrgestaltiger Form an Alice Salomon erinnert. Das reicht von einer Briefmarke in der Serie „Frauen der deutschen Geschichte“ und einer Alice-Salomon- Hochschule über einen ICE mit ihrem Namen bis zu einem Alice-Salomon-Platz sowie einer Alice-Salomon-Grünanlagen in Berlin.

Die couragierte Sozialreformerin wurde am 19. April 1872 in Berlin geboren. Sie war das dritte von acht Kindern ihrer Eltern. Ihre Mutter war die Tochter des Breslauer Bankiers Julius Potocky- Nelken. Ihr Vater ist als überaus wohlhabender Lederwarenkaufmann überliefert. Tochter Alice wuchs im Wohlstand nahe dem Anhalter Bahnhof (Berlin-Kreuzberg) auf, durfte nur die eingeschränkte Bildung einer „höheren Tochter“ an einer „höheren Töchterschule“ erwerben und wurde ansonsten auf ihre Rolle als Ehefrau vorbereitet. Ihr Wunsch nach einer Ausbildung zur Lehrerin wurde vom ansonsten liberalen und toleranten Vater rigoros abgelehnt. Erst nach Erreichen des 21. Lebensjahres löste sie sich aus den elterlichen „Zwängen“. Die jüdische Tochter „aus gutem Hause“ schloss sich Jeanette Schwerin an, die „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“ bildete, Mitglied im Vorstand des „Bundes deutscher Frauenvereine“ war und Alice Salomon zur Aktivistin prägte. Mit Folgen.

Nach dem Tod Schwerins 1899 übernahm Salomon deren Führungsämter für die Gruppen und im Bund. Mehr noch. Sie initiierte sofort einen Jahreskurs, der die systematische Ausbildung zu sozialer Arbeit in Deutschland einleitete, trat mit Vorträgen sowie ersten Veröffentlichungen hervor und studierte ab 1902 per Sondergenehmigung vier Jahre Nationalökonomie an der „Friedrichs- Wilhelms- Universität“ in Berlin. Als Bekrönung wurde sie 1908 zum Doktor der Philosophie promoviert. Fast parallel wurde ihr Jahreskurs im Rahmen der preußischen Mädchenschulreform mit ihr als Rektorin zur „ersten nichtkonfessionellen sozialen Frauenschule mit einem zweijährigen Curriculum“ ausgebaut. Diese Einrichtung existiert heute als „Alice- Salomon- Fachhochschule für Sozialarbeit und Sozialpädagogik“ und beging 2008 ihren 100. Geburtstag.

Grenzen für die geborene Jüdin gab es auch in der Weimarer Republik
Die junge Frau machte nun Karriere. Sie wurde stellvertretende Vorsitzende des „Bundes deutscher Frauen“, übernahm schrittweise weitere Führungsämter, publizierte immer umfangreicher und konvertierte 1914 zum Christentum. 1917 schlossen sich alle inzwischen gegründeten Frauenschulen in Deutschland unter ihrer Führung zu einem Verbund zusammen. Parallel trat sie als Pazifistin hervor. Doch als Alice Salomon 1920 bei der Wahl zur Vorsitzenden des BDF wegen ihrer jüdischen Herkunft übergangen wurde, bekam ihre Karriere und ihr inzwischen gewachsenes Selbstverständnis einen deutlichen Dämpfer. Sie trat deshalb aus dem Vorstand zurück und widmete sich in der Folge vor allem der Sacharbeit, Vorträgen und Publikationen. Dazu gründete sie 1925 eine Weiterbildungseinrichtung für Frauen mit sozialen Berufen, die unter ihrer Leitung ab 1926 auch eine Forschungsabteilung besaß und bedeutende Wissenschaftler zu Vorträgen gewann. Das reichte von Albert Einstein über Carl Gustav Jung, Eugen Fischer sowie Gertrud Bäumer bis zu Helene Weber. Alice Salomon realisierte in der Folge diverse Forschungsprojekte und veröffentlichte zusammen mit Gertrud Bäumer bis 1933 13 Monographien zum Thema Soziale Arbeit. Außerdem gründete sie die „Internationale Vereinigung der Schulen für Sozialarbeit“, fungierte als Vorsitzende dieses Gremiums und erlebte 1932 zum 60. Geburtstag national und international viele Zeichen der Wertschätzung. Das reichte von der Verleihung der Silbernen Staatsmedaille durch das Preußische Staatsministerium bis zur Ehrendoktorwürde der Berliner Universität. 1933 gedieh dann zur Zäsur.

Die Nazis entfernten sie zunächst aus allen Ämtern. Alice Salomon widmete sich nun der Unterstützung jüdischer Emigranten bis sie selbst von der Gestapo verhaftet wurde und 1937 als letzte Rettung das eigene Exil sah. Sie flüchtete über England in die USA, wurde 1944 amerikanische Staatsbürgerin und wurde von den Behörden dort über Jahre hingehalten. Man hinderte sie offenkundig an der Fortsetzung ihrer Sozialarbeit in den USA. Selbst ihre Memoiren konnte sie in den USA nicht veröffentlichen. Sie erschienen erst vier Jahrzehnte später 1983 in Deutschland.

Alice Salomon starb enttäuscht und vereinsamt am 30. August 1948 in New York. Ihre letzte Ruhe fand sie auf dem Friedhof Evergreens in Brooklyn. Ihr Nachlass befindet sich mehrheitlich an der „Alice-Salomon-Fachhochschule“ in Berlin, die auch eine umfangreiche Sammlung von Porträts besitzt. Ein weiterer Teil mit ihrem Briefwechsel wird im „Ida-Seele-Archiv“ in Dillingen an der Donau verwahrt.

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