1510 wurden 38 Berliner Juden wegen angeblicher Hostienschändung am heutigen Strausberger Platz verbrannt.  

Juli 7, 2017 – 13 Tammuz 5777
Abrechnung am Rabenstein

Von Frank-Rainer Schurich

Dem heutigen Strausberger Platz in Berlin mit seinen vier dominanten und flankierenden zehn- beziehungsweise fünfzehngeschossigen Turmhochhäusern und dem Brunnen von Fritz Kühn (1967) sieht man nicht an, dass hier einst in zahllosen öffentlichen Hinrichtungen mittelalterliche Strafen vollstreckt wurden. Ungefähr dort, wo sich die nordöstliche Bebauung befindet (Strausberger Platz 6-9), stand das Hochgericht oder der Rabenstein. Auf späteren Karten hieß dieser Platz nördlich der Frankfurter Straße (heute Karl-Marx-Allee), wo sich lange Zeit niemand entschließen konnte, auf der „verfluchten Erde“ Häuser zu platzieren, „Alter Gerichtsplatz“. In dem Schmettauschen Plan von 1748 ist der Ort immer noch als „Alter Gerichtsplatz“ an der Frankfurter Straße verzeichnet.

Im Mittelalter war dies ein „verrufener Ort“ mit Rabenstein und Schinderberg. In der Regel fanden hier zweimal im Jahr zur Abschreckung der Berliner Bevölkerung Hinrichtungen statt. Auch nachdem Anfang des 18. Jahrhunderts im Zuge der Stadterweiterung das Hochgericht nach Norden in Richtung Wedding verlegt wurde, blieb der Platz noch lange unbewohnt, denn an diesem „verrufenen Ort“ wollte niemand zu Hause sein.

Rabensteine befanden sich einst in fast allen Städten Deutschlands, denen die peinliche Gerichtsbarkeit zustand. Der aus Steinen erhöht angelegte Platz und die dort häufig anzutreffenden Raben gaben diesen Orten ihren Namen. Denn die Leichen wurden nach alter Sitte im Anschluss an die Exekution am Strick hängen- oder auf dem Rad liegengelassen, wodurch sich Raben und andere Vögel des verwesenden Leichnams annehmen konnten. „Für vogelfrei erklären“ und „Sollen dich die Raben fressen!“ – diese heute noch gebräuchlichen Redewendungen erinnern uns sinnbildlich an jene mittelalterlichen Hinrichtungsstätten.

Der Rabenstein ist auch der Schauplatz für einen ungeheuren Justizmassenmord an jüdischen Bürgern. Am 10. Februar 1510 wird durch den Pfarrer in der Kirche des kleinen Dorfes Knoblauch bei Brandenburg ein Diebstahl entdeckt. Die vergoldete Monstranz, der wertvollste Besitz der ansonsten armen Gemeinde, ist ebenso verschwunden wie ein kleines Messingbüchschen, in dem die erst kürzlich geweihten beiden Hostien aufbewahrt waren. Später findet man Stücke der Monstranz in Bernau im Hagen ganz in der Nähe der Stadtmauer. Der Verdacht fällt sogleich auf den Kesselflicker Paul Fromm, der als besonders rauflustig und brutal ganz obenan auf der schwarzen Liste des Bernauer Bürgermeisters steht. Als Fromm vom Verdacht gegen ihn hört, ergreift er die Flucht, wohl wissend, dass jegliche Untersuchung gegen ihn, ob er nun unschuldig ist oder nicht, einem Todesurteil gleichkommen muss.

Nun erst recht verdächtig, jagen ihn die Büttel. Sie bekommen ihn nicht, aber er macht einen Fehler. Als er noch einmal in sein Haus zurückkehrt, wird er verhaftet. Paul Fromm gesteht sofort die schändliche Tat, um sich der Folter zu entziehen. Aber sein Plan geht nicht auf. Die Obrigkeit will mehr, will, dass die Juden in diesen Kirchendiebstahl verwickelt werden.
Zu dieser Zeit sind die Juden durch gesetzliche Bestimmungen vom normalen Handel und Handwerk ausgeschlossen und gezwungen, von niedrig bezahlten Dienstleistungen oder vom Geldverleih zu leben; Geldgeschäfte sind den Katholiken dagegen streng verboten. Die christlichen Schuldner dieser Zeit greifen nun zu kriminellen Mitteln, um ihre Schulden loszuwerden. Unter religiösen oder abergläubischen Vorwänden werden jüdische Gläubiger vertrieben und sogar ermordet. So forderten die märkischen Landstände beispielsweise schon 1480 vom Kurfürsten, alle Juden aus dem Lande auszuweisen.
Kurfürst Joachim I. steht den Juden ambivalent gegenüber. Einerseits benötigt er ihr Geld, andererseits will er sie auch loswerden. So holt er 1510 zum großen Schlag gegen das Judentum aus.

Anlass ist das „Geständnis“ von Paul Fromm, der so lange gefoltert wird, bis er aussagt, eine Hostie einem Juden Salomon aus Spandau verkauft zu haben. Nach der vom Kurfürsten angeordneten Gegenüberstellung von Fromm und Salomon, welcher, zweifelsohne durch Folterungen gezwungen, den angeblichen Kauf der Hostie, deren Schändung und stückweisen Wiederverkauf an andere märkische Juden zugibt, setzt in der gesamten Mark Brandenburg eine umfassende Verfolgung und Verhaftung von Juden ein.

Die Zahl der Beschuldigten, die man nicht allein der Hostienschändung, sondern auch des Ritualmordes an Christenkindern bezichtigt und die man zu den unsinnigsten Geständnissen nötigt, wächst auf hundert an. Wie ambivalent Kurfürst Joachim I. den Juden gegenübersteht, zeigt die Tatsache, dass viele der Beschuldigten erst ein Jahr zuvor mit Familie und Gesinde von ihm höchstselbst gegen Zinszahlung in der Mark Brandenburg aufgenommen worden waren.

Die Angeklagten bringt man auf Geheiß des Kurfürsten nach Berlin. Bürgermeister Hans Brackow, gleichzeitig mit dem Amt des Stadtrichters betraut, führt am 19. Juli 1510 den Vorsitz des sogenannten endlichen Rechtstages, eines spektakulären Schauprozesses, der als einer der größten Judenprozesse in die Geschichte der Mark Brandenburg eingehen wird. Auf dem Neuen Markt an der Marienkirche werden Paul Fromm und 38 Juden vor großem Publikum zum Feuertod verurteilt, zwei Juden zum Tod durch das Schwert. Das Urteil lautet: „Paul Fromm ... soll man auf einen Wagen binden, die Gassen auf und nieder führen, mit Zangen reißen und danach in ein Feuer legen, ... die boshaften, schnöden und verstockten Juden ... zu Pulver verbrennen.“ (…)

Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.


Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.

Brief an die Redaktion schreiben

Soziale Netzwerke