Von Dmitri Stratievski
Das Wort „Jar“ steht im Ukrainischen für eine Schlucht. „Babyn Jar“, eine noch im 15. Jahrhundert urkundlich erwähnte Gegend bei Kiew, wurde im September 1941 zum Schauplatz eines bestialischen Verbrechens des NS-Regimes. Dort wurden über 33.000 Menschen ermordet. Überwiegend waren es ukrainische Juden. Die genaue Anzahl der getöteten Kleinkinder ist bis heute nicht bekannt.
Krieg: Katastrophe
Am 19. September 1941 durchbrach die Wehrmacht die sowjetischen Verteidigungsstellungen bei Kiew. Die Rote Armee verließ die Hauptstadt der damaligen Sowjetukraine. Am 24. September wurde das Zentrum der Stadt von gewaltigen Explosionen erschüttert. Mehrere Häuser wurden zerstört, darunter das Gebäude des deutschen Armeehauptquartiers. Die NS-Besatzer machten die Kiewer Juden für diesen Anschlag verantwortlich. Laut dem Historiker Wolfram Wette sollte die kurzerhand geplante Exekution als eine „Vergeltungsaktion für den Tod deutscher Soldaten“ nach außen getragen werden. Das erste jüdische Opfer der Stadt wurde Augenzeugen zufolge ein von deutschen Soldaten unmittelbar während der Löscharbeiten auf offener Straße erschossener Mann.
Wenige Tage später wurden etwa zweitausend Bekanntmachungen in zwei Sprachen an die Mauern und Laternen Kiews geklebt:
„Sämtliche Juden der Stadt Kiew und Umgebung haben sich am Montag, den 29. September 1941 bis 8 Uhr Ecke der Melnik- und Dokteriwski-Straße einzufinden. Mitzunehmen sind Dokumente, Geld und Wertsachen sowie warme Bekleidung, Wäsche usw. Wer dieser Aufforderung nicht nachkommt und anderweitig angetroffen wird, wird erschossen.“
Jüdische Männer waren an der Front
Im 19. Jahrhundert gehörte die Kiewer jüdische Gemeinde zu den größten in der Ukraine. Infolge der Pogrome zu Beginn des neuen Jahrhunderts wechselten viele Juden ihren Wohnsitz. Nach der Etablierung der Sowjetmacht und der beschleunigten Industrialisierung zogen hingegen zahlreiche jüdische Ingenieure, Wissenschaftler und Arbeiter in die Stadt. Gemäß der letzten Vorkriegsvolkszählung 1939 lebten in Kiew 224.000 Juden. Nach dem Kriegsausbruch im Juni 1941 wurden männliche Juden im wehrpflichtigen Alter in die Rote Armee einberufen. Viele jüdische Frauen meldeten sich freiwillig als Krankenschwerstern und Sanitäterinnen. Anfang September 1941 wurden hunderte jüdische Familien ins Hinterland evakuiert, vorwiegend die Angestellten in den strategisch wichtigen Betrieben, aber auch die Zivilbevölkerung.
Da der Rückzug oftmals chaotisch verlief und behördliche Listen verlorengingen, lässt sich die Gesamtstärke der jüdischen Gemeinde zum 29. September 1941 mangels Belegen nur schwer ermitteln und die Schätzungen schwanken zwischen 90.000 und 130.000. Diese Zahlen schließen beim Bau der Defensivlinie eingesetzte jüdische Jugendliche und ältere Jahrgänge vermutlich mit ein, denen wegen des Vorrückens der Wehrmacht bzw. der Einkesselung der sowjetischen Truppen nur einen Weg geblieben war: zurück in die Stadt.
„Ereignismeldung UdSSR“ der Einsatzgruppe C
So fiel etwa die Hälfte der Kiewer Juden in die Hände der Nazis. Tausende Menschen versammelten sich am genannten Platz neben einem Friedhof. In der „Ereignismeldung UdSSR“ der SS-Einsatzgruppe C vom 3. November 1941, hieß es: „Obwohl man zunächst nur mit einer Beteiligung von etwa 5.000 bis 6.000 Juden gerechnet hatte, fanden sich über 30.000 Juden ein, die infolge einer überaus geschickten Organisation bis unmittelbar vor der Exekution noch an ihre Umsiedlung glaubten.“
Warum folgen die Juden Kiews diesem Befehl? Die Überlebenden schilderten verschiedene Motive dafür: Angst, Hoffnung auf einen sicheren Ort, Gerüchte über die Umsiedlung in ein Arbeitslager im Kiewer Umland (im Sinne der Aufforderung, warme Kleidung mitzunehmen). Nicht zuletzt spielten die Erzählungen älterer Generation über einen relativ fairen Umgang der Reichswehrsoldaten mit den Juden Kiews während der Besatzungszeit 1918 eine Rolle. Dazu ist anzumerken, dass die Sowjetführung nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes 1939 jede antifaschistische Propaganda sowie das Informieren der Bevölkerung zur Verfolgung der Juden im Dritten Reich eingestellt hatte.
Binnen zwei Tagen, am 29. und 30. September, wurden in Babi Jar 33.771 Juden ermordet. Nur 29 Personen konnten ihr Leben retten. Verantwortlich für dieses Massaker waren die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD, Teile der Wehrmacht (6. Armee), Geheime Feldpolizei, Orpo und ukrainische Kollaborateure. Die Erschießungen in Babi Jar dauerten bis zum Ende der Besatzung Kiews durch die Deutschen 1943. Insgesamt wurden in der Schlucht weit über 100.000 Menschen hingerichtet, darunter über 50.000 Juden, mehrere tausend sowjetische Kriegsgefangene (wie z.B. 100 Matrosen, die als „fanatische Bolschewisten“ galten), geistig Behinderte aus einer naheliegenden Anstalt, Widerstandskämpfer und fünf Roma-Großfamilien. Angehörige vieler Völker der Sowjetunion fanden den Tod in Babi Jar.
Der Erinnerung an die jüdischen Opfer muss eine besondere Bedeutung beigemessen werden. Der russische Schriftsteller und Menschenrechtler Viktor Nekrasow sagte einst: „Ja, nicht nur die Juden wurden in Babi Jar getötet. Aber nur die Juden wurden dort aus einem einzigen Grund getötet: sie waren jüdisch“.
Nachkriegszeit: Vergnügungspark oder Schuttabladeplatz
Die Beschäftigung mit der Schoah war in der früheren Nachkriegs-Sowjetunion politisch nicht erwünscht. Bis auf ein Mahnmal in Minsk nannten die sowjetischen Gedenktafeln keine jüdischen Genozid-Opfer beim Namen, sondern sprachen pauschal von „Sowjetbürgern“. Das jüdische Leben war in der sowjetukrainischen Hauptstadt wenig existent. In Kiew gab es eine einzige aktive Synagoge. Während der antisemitischen Kampagne 1948-1953 wurden die Abteilung für die jüdische Kultur in der Akademie der Wissenschaften der Ukraine, die letzte jiddischsprachige ukrainische Zeitschrift „Der Stern“ sowie der jüdische Friedhof geschlossen. 1952 kam es zu einer Massenverhaftung ukrainisch-jüdischer Intellektueller im Zuge des fabrizierten Falles „der jüdischen nationalistischen Gruppe“. Jüdische Mediziner verloren als „Illoyale“ ihren Job. Kurz nach dem Tod Stalins brachte das Parteikomitee die Eröffnung eines Vergnügungsparks in Babi Jar zwecks „Verbesserung der Freizeitgestaltung der sozialistischen Gesellschaftsmitglieder“ ins Gespräch. Nur eine Überschwemmung im Kiewer Umland mit bis zu 1.500 Opfern verhinderte die Umsetzung dieses Vorhabens. Jahrelang wurde auf dem Gelände Bauschutt entsorgt.
Doch leistete die sowjetische Zivilgesellschaft, inspiriert vom Chruschtschow‘schen Tauwetter, aktiven Widerstand gegen das Ausradieren der Erinnerung an den Holocaust. Jewgenij Jewtuschenko schrieb 1961 das Gedicht „Babyn Jar“ und stellte die kommunistische Verdrängungspolitik offen an den Pranger. Ihm folgte 1965 Anatolij Kusnecow mit einem gleichnamigen Roman. Kusnecow wurde später gezwungen in den Westen zu fliehen. Ende der 60er Jahre wurden in Babi Jar erste, nicht genehmigte Trauerzeremonien und sogar Gottesdienste mit Beteiligung von Juden aus der ganzen UdSSR abgehalten. Trotz eines formellen Beschlusses des sowjetukrainischen Parlaments zur Errichtung eines Denkmals auf dem Gelände der ehemaligen Erschießungsstelle aus dem Jahr 1945, weigerten sich die Machthaber vor Ort ein Gedenkzeichen zu setzen. Erst 1976 entstand in Babi Jar ein Mahnmal – allerdings ohne Erwähnung der Juden als die größte Opfergruppe. 1991 wurde endlich eine Gedenk-Menorah geschaffen.
Gegenwart: Warnung und Wachsamkeit
Ein ukrainisches Sprichwort besagt: „Das brauchen nicht die Toten, das brauchen die Lebenden.“ Heute stehen in Babi Jar elf verschiedene Denkmäler. Jährlich finden hier diverse Veranstaltungen statt. Jetzt sind in Kiew sieben große Synagogen und viele Kultur- und Begegnungszentren in Betrieb, doch verließen nach der Wende viele jüdische Bewohner ihre Heimatstadt. Nach Angaben der Jewish Agency übersiedelten alleine im Zeitraum 1989-1997 knapp 35.000 Kiewer Juden nach Israel, darunter einige Holocaust-Überlebende. Sie wissen ganz genau, dass der Staat Israel aus den damaligen Ereignissen eine wichtige Lehre gezogen hat: nie wieder wehrlos dem Gegner gegenüberstehen. Die Deutschen haben sich verpflichtet, dafür Sorge zu tragen, dass niemand das Verbrechen der NS-Zeit relativiert. Eine Neuauflage der alten revanchistischen These über die „saubere Wehrmacht“ und die „Eid-Treue“ deren Soldaten, wie es in Form des „Rückholens unserer Geschichte“ und des „Stolzes auf die Leistungen der deutschen Soldaten“ heute verlautet, ist eine Warnglocke für unsere Gesellschaft.