Von Dr. Dmitri Stratievski
Am 7. November jährt sich zum 100. Mal der Tag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution, so die offizielle Bezeichnung dieses Ereignisses in der Sowjetzeit. Bis 1927 hieß es im bolschewistischen Sprachgebrauch ganz offiziell „Oktoberputsch“. Wenn es die Sowjetunion noch gäbe, hätten die kommunistischen Machthaber an diesem Tag eine pompöse Feierlichkeit veranstaltet. Nun, nachdem die Sowjetunion Geschichte ist, haben wir ganz andere Möglichkeiten, über diese Umwälzung nachzudenken.
Im modernen gesellschaftspolitischen Diskurs ist die Oktoberrevolution mehrheitlich schlecht konnotiert. Eine Minderheitenmeinung vertritt immer noch die alte bolschewistische These von der Machtübernahme als Rettung des Landes und der Gründung des ersten „Arbeiter- und Bauernstaates“. Die Forschung bietet viele Alternativen, die leider breite gesellschaftliche Kreise kaum erreichen. Generell scheint es wichtig zu sein, zwischen den einzelnen Akteuren bzw. ihren ideologischen, zum Teil idealistischen Beweggründen und der späteren Umsetzung des Vorhabens zu unterscheiden.
Wer waren die Bolschewiki?
Bolschewiki (russisch: „Anhänger der Mehrheit“) entstanden 1903 auf dem II. Parteitag der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, als sich diese Partei spaltete. Politische Gegner von Wladimir Lenin, Menschewiki („Minderheit“), plädierten für eine kontinuierliche Änderung in Russland und die Transformation des Zarenreiches in eine demokratische parlamentarische Republik. Lenins Gruppe stimmte für eine Revolution. Die zentrale Kontroverse drehte sich somit um Aufklärung versus Gewaltanwendung. „Ein Menschewik steht vor einem Apfelbaum und wartet, bis der Apfel selbst fällt. Ein Bolschewik zögert nicht und reißt den Apfel selbst“, so Lenin. Allerdings verbuchte die neue Partei bis 1917 nur wenige Erfolge. Im letzten russischen Vorkriegsparlament (Staatsduma) verfügte die vereinigte Arbeiterpartei (ein provisorisches Wieder-Bündnis von Bolschewiki und Menschewiki) nur über 14 von insgesamt 442 Sitzen. Sechs davon gehörten der bolschewistischen Untergruppe. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914 wurden Bolschewiki wegen ihrer Ablehnung des bewaffneten Kampfes gegen die „verbrüderten deutschen Proletarier“ verboten. Die Zeitung „Prawda“ wurde geschlossen. Die ganze politische Spitze wurde verhaftet oder ging ins Exil. Im Februar 1917 zählte die im Untergrund tätige Partei 24.000 Mitglieder.
Die komplette Wende zu Beginn des Jahres 1917 (Abdankung Nikolaus II., Februarrevolution und Gründung einer neuen Regierung) überraschte die Bolschewiki völlig. Führende Köpfe der Partei wie Wladimir Lenin, Lew Trotzki, Grigori Sinowjew und Nikolai Bucharin waren im Ausland. Lenin kehrte eilig nach Petrograd und konzipierte seine Thesen zur Machtergreifung. Die Mehrheit der Partei, darunter der Vorstand des Petrograder Bolschewiki-Komitees, votierte ursprünglich gegen den Aufstand. Die Verbündeten der Bolschewiki, wie beispielsweise die Sozial-Revolutionäre, wiedersprachen Lenin mit starken Argumenten. Das Land sei wirtschaftlich unterentwickelt und befinde sich in der Dauerkrise. Auch die Unterstützung der Bevölkerung sei zu gering. Wegen der Dominanz von konservativen Strömungen in der Ober- und Mittelschicht der Gesellschaft sei ein Bürgerkrieg unabdingbar. Lenin schaffte jedoch das Unmögliche und stimmte die Delegierten der April-Konferenz der Partei um. Sie folgen ihrem Vorsitzenden und erklärten sich bereit eine Revolution anzustiften. Durch diesen radikalen Schwenk gewann die Partei weitere Mitglieder: April 1917: 80.000, Juli 1917: 240.000 und schließlich im Oktober 1917 etwa 300.000 Mitglieder.
Der russische Historiker Walerij Shurawlew untersucht den Mitgliederstamm der Bolschewiki. Zum Zeitpunkt der (fast widerstandslosen) Machübernahme lag das Durchschnittsalter der Parteiaktiven bei 30 Jahren. Etwa 36 % gehörten zum Arbeitertum. Jeder Zweite repräsentierte die untere Mittelschicht und kam aus einer Kleinstadt. Mehr als 50 % der Mitglieder bildeten die Russen, danach folgten die Juden (20 %), Angehörige der kaukasischen und baltischen Völker (7 %) sowie viele Polen, Tataren und Deutsche. Die Partei war jung, heterogen und dynamisch. Die soziale Zusammensetzung der Parteimitgliedschaft entsprach jedoch keineswegs der Bevölkerungsstruktur in Russland. Der Anteil der Bauern betrug im Russischen Reich fast 80 %, der der Industriearbeiter etwa 4 %. So sprachen die Bolschewiki über die Bauern-Rechte, ohne jedoch Bauern in ihren eigenen Reihen zu haben.
Warum gelangen die Bolschewiki an die Macht?
Im Oktober-November 1917 agierten in Russland viele politische Parteien: Genug Unterstützung genossen Konservative, Nationalisten, National-Liberale, Gruppierungen der Angehörigen von verschiedenen Volksgruppen sowie Anarchisten und Sozial-Revolutionäre. Die Zahl der Bolschewiki stieg zwar rapide, sie waren aber immer noch keine Massenbewegung.
Über die Gründe der raschen Machtergreifung der Bolschewiki rätselt man in der Historikerwelt bis heute. Zum Ersten war die russische politische Palette sehr zerstritten. Größere Parteien sowie die Regierung von Alexander Kerenski bekriegten sich untereinander. Eine mittelgroße und geschlossene Bewegung wie die Bolschewiki schien konsequent und sympathisch zu sein. Zum Zweiten boten die Bolschewiki ein simples und attraktives Programm, das keine andere politische Kraft Russlands hatte: soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, Eigentumsverteilung, Bodenreform, Internationalismus, Beendigung des sinnlosen Krieges gegen die „verbrüderten Proletarier in Deutschland“, Werktätige als herrschende Klasse.
Gerade diese Gleichberechtigung aller Menschen, unabhängig von ihren sozialen und ethnischen Merkmalen – ein Traum der Aufklärer – war für die russische politische Landschaft völlig neu. Zum Dritten wandten die Bolschewiki in ihrem Machtkampf ein wichtiges Instrument an: die Arbeiter-, Bauern-, und Soldatenräte – ein Novum in der Repräsentanz gesellschaftlicher Interessen. Schließlich waren Lenin und Trotzki resolut und durchgreifend, strategisch ihren Konkurrenten überlegen. Die liberal-konservative Regierung war dagegen zögerlich und zaudernd. Noch nach dem gescheiterten Juli-Aufstand erließ die Staatsanwaltschaft einen Haftbefehl gegen die führenden Bolschewiki. Lenin und viele seine Gefolgsleuten wurden trotzdem nicht verhaftet. Trotzki kam kurz ins Gefängnis, wurde aber schon im September wieder entlassen.
Was passierte danach?
Die meistverbreitete Parole der Bolschewiki 1917 lautete „Alle Macht den Räten!“. Tatsächlich aber wurden die Räte sowie das Exekutivkomitee Russlands, die Triebkräfte des Aufstandes, zugunsten des von Lenin angeleiteten Rates der Volkskommissare sofort entmachtet. Bolschewiki schafften demokratische Institutionen und Freiräume zur Selbstbestimmung der Menschen ab. Politische Parteien, einschließlich der Sozial-Revolutionäre – wichtige Unterstützer der Bolschewisten –, wurden de-facto ausradiert. Anstatt der Zarenbürokratie entstand eine neue, sowjetische Bürokratie mit ihrem verlängerten Arm, dem Geheimdienst Tscheka – ausgestattet mit unbegrenzten Kompetenzen.
Entgegen einer weitverbreiteten Meinung war der Rote Terror, eingeführt nach dem Regierungs-Dekret vom November 1918, keine dem Weißen Terror gleichgestellte Gegenmaßnahme im russischen Bürgerkrieg. Die Verfolgung begann noch vor der Etablierung eines aktiven Widerstandes. Felix Dserschinski, polnischstämmiger Leiter der Tscheka, äußerte sich dazu 1920 sehr offen. Er verstand den Roten Terror als eine „Verängstigung, Verhaftung und Vernichtung von Revolutionsfeinden nach dem Prinzip ihrer Klassenzugehörigkeit“. Somit handelte es sich also um „Präventivschläge“ und willkürliche Verfolgung von allen, deren soziale oder religiöse Zugehörigkeit oder Weltanschauung mit dem idealtypischen Bild eines „neuen Menschen“ kollidierten. (…)
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