Eine unglaubliche Vollmondwanderung zum Toten Meer  

September 9, 2016 – 6 Elul 5776
10 Stunden nachts in der Judäischen Wüste

Von Ulrich Jakob Becker

28 Kilometer Wüstenhügel im Vollmond. 15 Freunde. Ein Elite-Golaniführer. Ein Verletzter auf den Schultern. Ein gelber Skorpionstich. Ein Black Hawk down. Null Wasser.

Wir brachten die Kinder in die Betten, warfen die Rucksäcke über die Schultern und gegen halb neun begannen wir den Abstieg von den Hügeln von Takao in die Täler und trockenen Flussbetten der judäischen Wüste in Richtung Osten.
In ungefähr zehn Stunden wollten wir am Toten Meer sein - einmal über den jetzt im Sommer sehr staubigen Bergrücken Judäas, oder – wie andere es fälschlich nennen – das „Westjordanland“.

Alles junge Familienväter, die sich aus der Synagoge kennen, eine Männergemeinschaft, die ein bisschen die Beine austreten will im stressigen Alltagssprint. Und in der israelischen 46-Stundenwoche ist unter Einhaltung des Schabbats donnerstagsabends bis freitagsmorgens die einzig mögliche Zeit dafür.
Nachts ist es normalerweise problematisch querfeldein über Steine und Hügel zu stolpern, es sei denn, man hat Vollmond, wo die Wüste – anders als z.B. in Wäldern – mit ihrem hellem Sand und Steinen überall rings um gut zu überblicken ist. Genau das machten wir, denn Vollmond traf Donnerstagsabend. Freitagsmorgens sollten wir wieder hier sein. Ein Minibus würde auf uns am Toten Meer warten und am Schabbat würde wir unsere Muskelkrämpfe kurieren, um am Sonntag wieder fit zur Arbeit zu gehen. Jetzt mussten wir nur noch ankommen.

Einige hatten Taschen- und Kopflampen mitgenommen. Diese waren aber nutzlos. Der Vollmond strahlte so hell, dass es reine Batterieverschwendung war. Ich dachte teilweise eher an eine Sonnenbrille, da der Mond, wenn er genau vor einem stand, die Augen regelrecht blendete.
Die ersten Stunden gingen rasch und erfreulich vorwärts. Kilometer um Kilometer, Hügel um Hügel arbeiteten wir uns nach Osten vor. Wir lagen gut in der Zeit. Matanja, unser Führer, war ein Golani-Elitekämpfer, dessen tägliches Armeebrot es gewesen war, solche und ähnliche „Orientierungsmärsche“ anzuführen – bei Tag, bei Nacht, bei Vollmond, im Stockdunkeln, in Hitze und Kälte, im Frieden und im Krieg, mit und ohne Verletzten, zum Spaß oder mit zig Kilo Waffen und Ausrüstung auf dem Rücken. „Als ich einmal den ganzen Golan mit voller Ausrüstung durchmarschiert war und von oben auf den wunderschönen See Genezareth hinabblickte, versprach ich mir, dass ich solche Wanderungen nach der Armee auch mal ohne den ganzen Kram machen werde,“ erzählt er, während ich versuche mit ihm Schritt zu halten. Niemand kann jedoch mit ihm mithalten. Dabei ist er kein großer, breitschultriger Recke mit langen Beinen, sondern recht klein und kräftig mit kurzem Hals.

Bald reißen Lücken auf in unserer Linie, die sich über die Bergrücken über hunderte Meter erstreckt. Im Vollmond kann man die Letzten als kleine Figuren einige Hügel hinter einem sehen, dann noch ab und zu ihre Handys als Leuchtpunkte und irgendwann verliert man sie.
Zum Glück gibt es WhatsApp. Wir lassen uns auf dem staubigen Boden nieder und warten auf sie. Erst im Sitzen merkt man den Schweiß und wie warm es eigentlich ist für eine Wüstennacht. Das kurze Ausruhen lässt auch die ersten Schmerzen und Müdigkeiten aufkommen, die beim Laufen das Adrenalin sonst überbrückt.

Ein Hügel steigt markant wie ein Zuckerhut in die Höhe und Matanja nutzt ihn und seine kleine Satellitenkarte auf seinem Handy zum Navigieren. Dann zeigt er mit seiner ausgestreckten Hand in einem Meer von Bergen und Tälern in eine Richtung zwischen zwei im Mondlicht silber-schwarz aussehende Hügel und sagt: „Le Schama“ (Da entlang)! Jedes Mal wenn er das macht, wird einem bewusster, wie verloren man hier wirklich ohne ihn wäre.

Nicht mal eine Sonne hat man zum Orientieren. Ein Physikdoktorand erklärt den Sternenhimmel, wie man Norden festlegt, warum Sterne funkeln, Planeten aber nicht etc.. Ja, wir sind eine bunte Truppe. Hauptsächlich Psychologen, Sozialarbeiter und Akademiker vom Doktoranden aufwärts, plus eine Prise High-Techisten und Sicherheitsleute, ein Architekt, abgerundet mit zwei Anwälten.

Die Lücken werden zu groß. Immer wieder müssen wir lange Sitzen und warten. Zwei Anwälte und ein Physiker hängen nach. Einmal setze ich mich beim Warten mit zwei Freunden in ein Nest von Riesenameisen. Auch nach einer halbe Stunde Lauf zerdrücken wir immer noch die beißenden Biester an unseren Körpern und fischen sie aus allen möglichen Ecken. Ich versuche mit Handyleuchtsignalen eine Lücke zwischen zwei Gruppen zu überbrücken, aber es hilft nichts. Michael, ein Freund in der letzten Gruppe kann nicht mehr weiter, seine Füße sind mehrmals umgeknickt – das heißt, auch mit zwei Gehstöcken kommt er nur auf Flurgeschwindigkeit im Altersheim. Vielsagende Blicke. Wir sind viel zu weit weg, um umzudrehen. Aber wenn wir so weitermachen, kommen wir niemals zur verabredeten Zeit am Toten Meer an.

Während Michael sich noch zwei Aspirin einschmeißt und fragt, ob nicht ein Jeep für ihn hierher durchkommen könnte (keine Chance!), sagt Matanjah nur: „Tschuldigung...,“ und schwupps hat er Michael mitsamt genierten Lächeln auf seine Schultern geschmissen und läuft los. Ich fasse Michaels Rucksack und laufe hinterher. Es geht zügig weiter. Matanjah ist immer noch mit Abstand der Schnellste. Wir kommen in ein ebenes, trockenes Flussbett, wo man gut laufen kann und treffen eine andere Gruppe mitten in der Nacht.
Sie gehen diesen einfachen Weg weiter, bis zu einer Station, wo es Mitfahrgelegenheiten gibt. Sie übernehmen Michael und wir machen nach einer von Matanjah angeordneten kurzen Rast – er flüstert mir kurz zu, dass er sonst nicht mehr weiter gekonnt hätte – gegen 2 Uhr weiter.

Das Problem ist nur, dass das Wasser zu Ende geht und wir haben erst die Hälfte hinter uns. „Wer hat ‚drei Liter Wasser pro Person‘ in die WhatsApp-Gruppe geschrieben!?”, fragt Matanjah. „Man braucht mindestens sechs, besser sieben für diese Tour!“
Das hilft jetzt aber auch nichts mehr. Nach anderthalb Stunden ruhen wir uns wie Weltkriegssoldaten in einem Graben am Weg aus, bis sich alle wieder zusammenfinden und die Schmerzen in Knöcheln, Sehnen und Muskeln übernehmen. Ich habe nur noch drei Schlucke Wasser und beschließe sie jede halbe Stunde in kleineren Schlucken zu trinken.

Gegen vier Uhr sehen wir am Horizont etwas nicht ganz so Dunkles. Der Morgen kündet sich vorsichtig an. Und das ist für uns gerade gar nicht romantisch, denn es bedeutet vor allem, dass wir bald die brennende Scheibe über unseren ausgetrockneten Köpfen haben werden. Wir müssen noch mehr zulegen. Drei von uns setzen aus Trotz zu einem Sprint an und verschwinden hinter dem nächsten Hügel.

Auf einmal tauchen sie wieder auf und rennen zu uns zurück… wir grübeln, warum sie das wohl tun – wo doch gerade niemand auch nur zwei schmerzende Schritte umsonst zu tun bereit ist.
Auf der rechten Seite des Weges entdeckten wir in einiger Entfernung vor einem Pickup-Truck, wie er bei Beduinen üblich ist, ein kleines Lagerfeuer unter einer bildschönen Wüstenakazie. Es wurde kurz gewarnt in großem Bogen schnell an ihnen vorbeizuziehen. Viele von uns sind mit Pistolen bewaffnet und wenn man zusammenbleibt, sollte es nicht weiter gefährlich sein. (…)

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