Eine Presseschau  

Dezember 4, 2015 – 22 Kislev 5776
Was schreiben die arabischen Zeitungen zum Terrorismus?

Von Michael Guttmann

Noch nie war die arabische Presse so aufgewühlt, wie nach dem Tod des syrischen Kleinkindes Ilan Kurdi, das auf dem Weg Richtung Europa an der Seite seiner Familie ertrunken ist und in Folge der hinterhältigen Terroranschläge vom 13. November 2015 in Paris.

Über Wochen schon ziehen sich die Kritiken hin, wobei festzustellen ist, dass neben den üblichen Beschuldigungen des Westen die Zahl der Selbstkritiken wächst. Diese Kritik ist sehr grundsätzlich. Zu lesen sind tiefgehende Analysen über die Zustände in der arabischen, islamischen Welt und es mangelt nicht an Vorschlägen, wie man die Gesellschaft verändern, das Bildungssystem reformieren muss und den Klerus, der von den Gläubigen deutlich abgehoben ist, in seine Schranken weist.

Die Selbstkritik hat in dem Maße zugenommen, wie die Massen der Muslime selbst Opfer brutaler Übergriffe, insbesondere des IS geworden sind. Dennoch gibt es eine Reihe von Artikeln, die die neuen schärfer gewordenen Auseinandersetzungen zwischen den Blöcken der Sunniten und Schiiten mit alten Klischees beurteilen. Sie folgen dem alten Mittel, die Schuldigen bei den anderen zu suchen.

Die üblichen Floskeln
Sprecher des iranischen Regimes ließen verlauten, dass Frankreich und die USA durch Unterstützung des Terrors der Takfire (Ungläubige) und des IS den Terror nach Europa getragen haben. Die Franzosen bezahlen jetzt den Preis für ihre fehlerhafte Politik in Syrien und im Nahen Osten. Solidaritätsbekundungen vor der französischen Botschaft in Teheran sind auf heftige Kritik der staatlichen Medien gestoßen.

Der jüngste Terroranschlag von Paris löste in der arabischen Welt eine Diskussion über die Ursachen der Anschläge und der Rolle Frankreich in der Syrienkrise aus. Das Regime in Damaskus attackierte die Beziehungen Frankreichs zu Saudi-Arabien und Katar, die als Unterstützer der syrischen Opposition bekannt sind und behauptete, dass Frankreich den Terrorismus damit fördere.

Selbstkritik im Vordergrund
Iraks Tageszeitung El-Meda kommt zu dem Schluss: Araber und Muslime sind schuld an den weltweiten Terroranschlägen. Unter der Überschrift:
„Das ist unser Terror. Wir tragen die Verantwortung“, kritisiert der Redakteur Ednan Hussein in scharfen Worten Sunniten und Schiiten gleichermaßen. Sie tragen eine direkte Schuld an den Terroranschlägen, die die Welt überziehen. Hussein beklagt, dass Schulen, Medien und Moscheen in der arabisch-islamischen Welt die Plattformen liefern für die Vorbereitung und Rechtfertigung von barbarischen Grausamkeiten, wie öffentliche Enthauptungen, Gewalt und Blutvergießen, während die Stimme des anderen Islams, der Mehrheit, stumm bleibt. Seiner Meinung nach sind es die reaktionären Indoktrinationen, mit denen fortwährend die Muslime als die ausgewählte Umma präsentiert werden, während alle anderen als Kufare verdammt werden, die in der Hölle schmoren sollen; mit denen die junge Generation in den heiligen dritten Welt -Dschihad gegen die Nichtmuslime gehetzt werden. Hussein ruft zur Anerkennung der Schuld der Muslime an der Verbreitung des Terrorismus auf und verlangt wirksame Reformen in Bildung Medien und religiösen Einrichtungen.

„Wir können unsere Verantwortung für die jüngste Terroroffensive in Paris nicht abschütteln. Wir Araber und Muslime können uns weder aus der Verantwortung für unsere direkte Rolle dabei noch aus den engen Verbindungen zu den Terrororganisationen stehlen, durch die viele Staaten der Welt und in erster Linie die eigene Region seit über zwei Jahrzehnten leiden. Immer und immer wieder wird uns im Religionsunterricht, in der Grund-, Mittel-, Oberschule und an der Universität eingehämmert, dass wir die glorreiche und beste Umma haben, dass unsere Religion die einzig wahre ist, während die anderen verlogene Ungläubige sind, deren Leben nichts wert ist, deren Geld und Frauen wir uns nehmen dürfen. In solchen Belehrungen werden aus dem Koran die Rechtssprechungen der Propheten, völlig losgelöst vom historischen Hintergrund zitiert. So werden Urteile als unanfechtbar und verbindlich für alle Zeiten und unter allen Umständen erklärt.

In Moscheen und Husseinias (religiöse schiitische Zentren) ist es üblich die besonderen Eigenschaften der schiitischen Lehre dadurch hervorzuheben, dass gegen andere Religionen oder andere islamische Strömungen hemmungslos gehetzt wird. Den Kindern wird heutzutage in Moscheen und Schulen eine gehörige Portion von seelischen und mentalen Grausamkeiten aus dem verderblichen Vorrat des Klerus verabreicht. Sie werden auch rund um die Uhr in den Medien verbreitet, die dafür finanzielle Mittel erhalten zu Lasten der staatlichen Einrichtungen für Bildung und Gesundheit.

Unseren Kindern und Jugendlichen wird auf diese Weise ein dritter Heiliger Weltkrieg gegen die Fremden, gleich welchen Glaubens oder Nationalität suggeriert. In einer solchen Atmosphäre wachsen unsere extremistischen Islamgruppen auf. Sie leben in Unwissenheit und werden an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Ihnen werden elementare Menschenrechte versagt, die Selbstachtung und persönliche Ehre genommen. Das alles geschieht häufig auch im Namen des Panarabismus und des Islamismus.
Wir können uns nicht länger aus der Verantwortung stehlen, da nutzen keine Ausreden, denn wir müssen als erstes unsere Mitschuld eingestehen, uns selbst und die anderen um Vergebung bitten, bevor wir versuchen unseren Weg radikal zu ändern. Unser Erziehungssystem muss von der Grundschule bis zur Universität auf den Prüfstand. Es wird keine Vergebung geben, wenn wir nicht die Religionspraktika verändern in Richtung Toleranz, Harmonie und gegenseitige Achtung.“

Die Zeitung „Der Liberale“ (Kuwait) meint: Toleranz in der arabischen Welt wird es erst dann geben, wenn die Demokratie zur herrschenden Staatsform wird. Dr. Samlan Jussuf El-Issa, Dozent für Gesellschaftswissenschaften an der Universität El-Kuwait äußert sich zum Welttag der Toleranz am 16. November und meint, dass die Toleranz in der arabischen Gesellschaft nur durch konsequente Trennung von Politik und Religion möglich ist. Wir können vom Geist des 16. November nur Nutzen ziehen, wenn wir die Risse in der arabischen Welt beherzigen, welche heute durch Bürgerkriege, Religionskriege und Stammesfehden beherrscht wird. Täglich werden wir Zeuge von mörderischen und zerstörenden Konflikten in Syrien, Irak, Libyen, Jemen, Sudan und Libanon. All das geschieht, weil wir keinen nationalen Dialog zustande bringen, denn das setzt Toleranz voraus. Das Konzept der Toleranz stammt aus den Zeiten der Aufklärung im 17. und 18. Jh. in Europa. Seine Begriffe wurden von Voltaire, Rousseau u.a. namhafte Philosophen geprägt. Hauptgrund waren die Religionskriege der Christen. Wir müssen uns fragen, was können wir lernen aus den Erfahrungen des Westens lernen? Was fehlt uns in der arabisch-islamischen Welt, um Toleranz und Demokratie zum Durchbruch zu verhelfen?“

Als Voraussetzung müssen wir die Freiheit der Meinung durchsetzen, weil das Konzept der Toleranz Gewissens- und Religionsfreiheit erfordert, weil es auf philosophische und rechtliche Grundsätze basiert. Wir kennen weder gesellschaftlichen noch religiösen Pluralismus, Gleichberechtigung und Zusammenarbeit. Kurz, es fehlen Freiheit und Demokratie, weil Toleranz das Gegenteil von Fanatismus ist. Religion im Westen setzt auf Liebe und Verständigung, und nicht wie bei uns auf Hass und Fanatismus. Toleranz hat auch eine politische Bedeutung, nämlich Meinungsvielfalt und die Fähigkeit zum Dialog mit Andersdenkenden, sowie eine rechtliche Bedeutung, will heißen: klare Gesetze, die für alle gelten, ohne Diskriminierung.

Eine marokkanische Fatwa stellt fest: Terror und Djihad sind etwas Grundverschiedenes.
Einen Tag nach dem Terroranschlag von Paris erklärte der Oberste Marokkanische Rat der Religionsweisen unter Führung des Königs Mohamed des VI. in einer Fatwa: „Terror ist nicht dem Djihad gleichzusetzen und daher im Islam verboten. Djihad erfolgt im Namen Allahs und kann nur vom obersten Herrscher ausgerufen werden. In besagter Fatwa wird erklärt, dass der Djihad verschiedene Formen hat, darunter den Djihad der Gedanken, der Schriften und des bewaffneten Kampfes. Die Waffe gilt als letztes Mittel, wenn Muslime von Fremden bedroht werden und alle Anstrengungen für eine friedliche Beilegung des Konflikts zuvor gescheitert sind.

Rashan Shaball, Redakteur von der El-Chajat (London):
„Wir brauchen einen weltweiten Kampf gegen Terrorismus. Araber und Muslime müssen eine Rechenschaft der Seele vollziehen.“
Die Zeitung kritisiert zugleich die Weltmächte, die es dem IS ermöglichten, sich in Syrien und Irak ungestört zu etablieren. Er bedroht von dort die ganze Welt. Aus diesem Grund beschwört Rashan die Welt, sich für einen weltweiten Kampf (Krieg) gegen den Terrorismus zusammenzuschließen, bevor es zu spät ist. Araber und Muslime müssten daran beteiligt werden. Gleichzeitig ruft die Zeitung die arabisch-islamische Welt auf, zuhause die Hassardeure und Extremisten zu bekämpfen, Hass und Hetze aus den Schulen, Moscheen, Medien und dem Internet zu verbannen, und für jeden Einzelnen eine persönliche Seelenrechnung vorzunehmen (mit sich selbst ins Gericht gehen M.G.).

Der Anschlag von Paris übertreffe den von New York durch die Tatsache, dass wenige tollwütige Wölfe eine Stadt verunsichern können, ohne Flugzeuge und Raketen. Abu Baker El-Bagdadi (der IS-Chef) sei gefährlicher als Osama Bin Laden. Rashan glaubt, dass es ein fataler Fehler gewesen sei, dem IS nach seiner Staatsgründung freien Lauf zu lassen. Wir alle stünden nun vor einer Entscheidung, in den Krieg zu ziehen. Jeder müsse seine Position definieren.

„Die Welt ist an einem Scheideweg angelangt. Es geht um die Rettung der Menschheit und der Humanität. Es bedarf mehr als die Glanzreden von Lawrow oder der Naivität von John Kerry. Die Welt ist aufgerufen gegen die Barbarei zusammenzustehen. Zögern im Kampf wird die Welt mit neuen noch schlimmeren Anschlägen konfrontieren“, gibt dieser arabische Kommentator aus London zu bedenken.

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