Die JÜDISCHE RUNDSCHAU sammelte Eindrücke nach dem Anschlag  

Dezember 4, 2015 – 22 Kislev 5776
Vor-Ort-Besuch in Paris

Von Mercedes Ronja Nabert

Die Geschehnisse des 13. Novembers schockieren weit über die französischen Landesgrenzen hinaus. Seit 2001 wurde die Grundstimmung des Westens nicht mehr in einem solchen Ausmaße durch das Werk von Terroristen dirigiert. Der „Islamische Staat“ hat bewiesen, dass er längerfristig ernst genommen werden muss. Wellen spontaner Solidarität gehen um den ganzen Globus.
Für die Pariser ist es ein schierer Albtraum – doch die Stadt der Liebe und Ausschweifung zeigt sehr verschiedene Gesichter. Manch Ignoranz indes ist mit Fassungslosigkeit nicht zu entschuldigen.
Die JÜDISCHE RUNDSCHAU war vor Ort, um sich ein umfassendes Bild zu machen.

Das Bataclan-Theater, in welchem Terroristen 89 Menschen ermordet haben, war bis vor kurzem in jüdischem Besitz; die Örtlichkeit ist zudem für pro-israelische Veranstaltungen bekannt, und in der Folge für Angriffe und Angriffsdrohungen, über die dereinst noch differenziert berichtet wurde. Auch die für den Abend des Terrors gebuchte amerikanische Rock-Band „Eagles Of Death Metal“ hat aus ihrer Sympathie für den jüdischen Staat nie einen Hehl gemacht – erst unlängst wies sie das Ersuchen des Pink-Floyd-Sängers Roger Waters, nach einer Beteiligung am Israel-Boykott mit einem beherzten „Fuck you!“ zurück. Dass Antisemitismus zumindest eines von mehreren Motiven gewesen sein könnte, sieht folglich jeder, der sich hinzusehen traut. Auf Menschen, Politik und Medien in Frankreich übt dieser Tage jedoch nichts so viel Einfluss aus wie die Angst. Diese ist bekanntlich ein schlechter Ratgeber, und gegenwärtig obendrein eine geeignete Grundlage für die Entfaltung von Ressentiments.

Wenn sich nun ein ganzer Staat, der zum Schauplatz mehrerer dschihadistischer Massaker wurde, über diese antisemitischen Hintergründe in Schweigen hüllt, wenn die in Israel stattfindenden Solidaritätskundgebungen und die mitfühlende, ermutigende Ansprache des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu von den Redaktionen unterschlagen werden, vermag Antisemitismus allein dies nur unzureichend zu erklären. Präziser erinnert all dies an eine Kapitulation vor den Anliegen der Terroristen, was es in keiner Weise besser macht.

Place de la République: Trauer, Panik, Blumen und Fahnen
Das Publikum in den Seitenstraßen der sonst so lebendigen Rue de Voltaire scheint wie ausgewechselt, und dies nur marginal deswegen, weil die Touristen fehlen. Die Stimmung ist von einer befremdlichen Schwere und Vorsicht geprägt. Mit gedämpfter Stimme wird zwar weiterhin Smalltalk betrieben, doch nicht selten ist zu vernehmen, wie sich die Anwohner darüber austauschen, wer ein Opfer des Anschlags persönlich kannte. Am Rande stehen so manche Polizisten, von denen ungefähr jeder Dritte mit einem Maschinengewehr ausgestattet ist. Gegenüberliegend haben sich zahlreiche Fernsehjournalisten mit ihren Wagen, Technik und Pavillons in einem Halbkreis aufgebaut. Zu manchen Zeiten unter der Woche werden sie gegenüber den Trauernden noch in der Überzahl sein. Doch am Sonntag, zwei Nächte nach den Anschlägen, scheint es nach und nach die gesamte Einwohnerschaft hierher zu ziehen.

Einige Menschen liegen sich schluchzend in den Armen, andere umklammern ihre Weingläser, die sie von zu Hause mitbrachten. Hin und wieder stimmt eine Gruppe entsetzter Jugendlicher einen Beatles-Song an, was hauptsächlich hysterisch klingt. Eine nicht bundreine Akustikgitarre wird mit zittrigen Händen begleitend dazu gezupft, Kamerateams machen sich die besten Plätze streitig. Kurzum: Um wirklich zu trauern, ist es für die meisten noch zu früh. Zu wenig hat man sich bisher über die Geschehnisse gewahr werden können; zu frisch ist noch die Konsternation. Ganz deutlich wird dies, als zu einem Zeitpunkt ein lautes, dumpfes Geräusch erklingt und eine kurzzeitige Massenpanik auszulösen vermag. Noch Stunden später fragen sich die Menschen, was da los gewesen sein mag, und ihre Gesprächspartner pflegen dann fahrig, mit ängstlichem Blicke zu antworten, dass es „einfach nur Panik“ gewesen sei, vermutlich eine Flasche, die zu Boden fiel und zerbrach. Wann immer aus der Ferne Sirenen zu hören sind, rücken die Pariser wie aufgescheuchte Rehe dichter zusammen.

Um den Sockel der Statue der Marianne – der Nationalfigur der Französischen Republik – scharen sich rund hundert Menschen, um auf der breiten Ablagefläche, die einst als Sitzfläche genutzt wurde, Kerzen zu entzünden und sich anzusehen, was andere vor ihnen dort niedergelegt haben. Es stapeln sich Blumen, in den Farben Frankreichs bemalte Leinwände, Fahnen aus aller Herren Länder sowie Zettelchen, auf welchen Herzen und Peace-Zeichen nebst nachdenklicher Zitate von Sartre oder Breton gezeichnet sind. Ein gerahmtes Bild von Papst Franziskus prangt neben den Fotos der Opfer, und weiter oben am Sockel hat jemand mit Textmarker die Botschaft hinterlassen, dass Palästina hinter Frankreich stünde.

Jüdisches Trauern unerwünscht – Politisierung des Gedenkens willkommen
Schilder und Zettelchen mit der Botschaft „Ich bin Moslem, aber kein Terrorist“ werden vielfach präsentiert und zwischen den Blumen abgelegt; nie muss man lange auf den nächsten Menschen warten, der etwas vergleichbares in die Höhe hält. Auf Nachfrage versichern die meist männlichen, arabisch aussehenden Jugendlichen bereitwillig, dass auch Amerika und Israel nicht wenige Terroristen hervorgebracht hätten und dass die Opfer der Massaker, sofern nicht moslemisch, sich keinen Platz im Himmel sichern könnten. Dass die Ereignisse nicht im Geringsten etwas mit dem Islam zu tun haben, wird von Seiten des BBCs oder der Tagesschau selbstredend nicht in Frage gestellt. In die Mikrofone aller großen Nachrichtensender sollen sie nichts anderes als ihre Botschaft des Friedens parlieren. Keiner der verantwortlichen Journalisten ist bereit, der JÜDISCHEN RUNDSCHAU zu erklären, warum dieser Themenkomplex so rigoros ausgeklammert werden muss.

Hier, wie auch bei improvisierten Gedenkstätten an den Absperrungen vor den Tatorten, ist es kein Leichtes, Spuren jüdischen Lebens zu finden; auf dem Boulevard de Charonne so wenig wie auf dem Boulevard Voltaire. Spätestens wenn die freiwilligen zivilen Helfer wieder aufgeräumt haben, verschwinden auf wundersame Weise die wenigen hebräisch geschriebenen Botschaften und jedes noch so winzige jüdische Symbol. So naiv, eine der in Frankreich schwer erhältlichen Israelfahnen neben derjenigen von Sri Lanka niederzulegen, ist freilich aber auch keiner. Lediglich einige winzige Gedenkkerzen, nach denen man längere Zeit suchen muss, lassen erahnen, dass unter den Verstorbenen und Überlebenden auch Menschen mit einer Verbindung zum jüdischen Glauben oder zum jüdischen Staat gewesen sein könnten. In einem Gespräch über das Bataclan und seine Geschichte fragt ein Kameramann von NBC, was Zionismus überhaupt sein solle. „Wie buchstabieren Sie das, bitte? Nein, nie davon gehört.“ (…)

(…) Was im jüdischen Viertel überdies auffällt, ist die verhältnismäßig rare Polizeipräsenz. Während ein großer Gedenkgottesdienst in einer Synagoge am Vorabend noch von mehreren Dutzend Sicherheitskräften bewacht wird und vor dem Bataclan noch tagelang vier Mannschaftswagen stehen, sind am Montag lediglich drei schwer bewaffnete Polizisten vor den beiden Eingängen der jüdischen Schule eingesetzt und insgesamt etwa zehn im gesamten „Pletzl“, wie das jüdische Viertel im vierten Arrondissement auch genannt wird. Ob das gut durchdacht ist?
Von der JÜDISCHEN RUNDSCHAU darauf angesprochen, schüttelt einer der Polizisten unsicher den Kopf: „Ich weiß wirklich nicht, ob wir reichen. Vielleicht ein bisschen zur Abschreckung, ja. Aber wenn wirklich etwas passiert; wenn sie von da hinten oder von oben kommen, dann können wir nichts tun.“ Zwei Jungen mit Kippa überqueren Hand in Hand die Straße und grüßen ihre schwachen Beschützer im Vorbeigehen höflich. Die mit den Gewehren lächeln daraufhin verlegen und wenden sich ab.

(…) Liebesgrüße aus Ramallah
Am Mittwochabend, gerade einmal fünf Tage nach den Massakern, scheint der moralische Sieg auf dem Platz der Republik in noch weitere Ferne gerückt zu sein. Der Enthusiasmus beim repräsentativen Trauern befindet sich ohnehin auf dem Rückzug – anders ließe sich kaum erklären, warum einsame Gestalten plötzlich „Free Hugs“-Schilder mit sich herum tragen müssen, um nochmals von einem Fremden getätschelt zu werden. Gegen 20 Uhr allerdings zieht eine Gruppe die Aufmerksamkeit auf sich, welche schlechter kaum hierher passen könnte und einen mehr als befremdlichen Auftritt darbietet. Vorweg geht eine Person mit seidenem Schal im Design der Fahne der palästinensischen Autonomiegebiete; zwei besonders große Fahnen hält er in seinen Händen: eine palästinensische und eine französische. Auch sein gut zehnköpfiges Gefolge schwenkt leidenschaftlich die palästinensische Flagge, und eine solche wird sogleich ganz oben an der Marianne gehisst. Achtlos stolziert der Mann mit dem Schal auf die Anhöhe der Statue und über die erloschenen Teelichter hinweg, bis jeder und jede einen guten Blick auf ihn erhaschen kann. Einige Neugierige kommen ihm näher, andere weichen irritiert zurück; doch sie alle beschenkt er mit einem breiten, süffisanten Lächeln.
Die restliche Gruppe hat sich inzwischen unter das einfache Volk gemischt, wo sich planmäßig und spielerisch einfach Gespräche über das „aufrichtigste Mitgefühl des palästinensisches Volkes“ entwickeln, welches „in Sachen Terror ja ebenfalls sehr leidgeprüft“ sei. Die Pariser nehmen offensichtlich an, dass festliche Stimmung und verstohlenes Gezwinker im Falle von Trauer eine kulturelle Eigenart unter "vertriebenen Arabern" sei, die sich in der Konfrontation mit Israel entwickelt haben muss.
Obwohl diese Aktion vermutlich bewusst zu einem Zeitpunkt stattfindet, zu welchem viele Sender live senden, wird den jungen Männern keine nennenswerte Medienbelagerung zuteil; das „Moslem, kein Terrorist“-Schildchen fehlt ihnen schließlich. (…)

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