Eine normale Welt würde das kurdische Referendum unterstützen – doch dies ist keine normale Welt  

Oktober 6, 2017 – 16 Tishri 5778
Nur noch Israel hält zu den Kurden

Von Seth Frantzman

Am Donnerstag votierte der UN-Sicherheitsrat einstimmig dafür seine Besorgnis über das für den 25. September 2017 angesetzte kurdische Referendum auszudrücken. Der Sicherheitsrat „äußerte Besorgnis über den möglicherweise destabilisierenden Einfluss des Plans der kurdischen Regionalregierung, nächste Woche unilateral ein Referendum abzuhalten. (…) Das geplante Referendum soll abgehalten werden, während die Operationen gegen den IS – bei denen kurdische Kräfte eine wesentliche Rolle spielen – immer noch im Gange sind.“ Er verlangte „Dialog und Kompromiss“. Am 17. September folgte eine Verurteilung der Abstimmung durch UN-Generalsekretär António Guterres. Er behauptete, „jede unilaterale Entscheidung darüber, zu diesem Zeitpunkt ein Referendum abzuhalten“, lenke „von der Notwendigkeit“ ab, „den IS zu besiegen“. Zudem drängte er auf einen „konstruktiven Kompromiss“.

In einer normalen Welt
In einer normalen Welt würde das Recht der Kurden im Nordirak, die seit zweieinhalb Jahrzehnten in einer autonomen Region leben, ein Unabhängigkeitsreferendum abzuhalten, unterstützt. Es ist nur eine Abstimmung. 

In einer normalen Welt würden die Opfer eines Völkermords, wie es die Kurden sind, die in den 1980er Jahren furchtbar unter Saddam Hussein gelitten haben, das Recht bekommen, über ihre Zukunft zu entscheiden.

Es ist verstörend, wie beinahe die ganze Welt, darunter fast jede westliche Demokratie, sich gegen das Unabhängigkeitsreferendum vereint. Dutzende von Ländern, die oft von „Demokratie“ reden, verbünden sich gegen die Demokratie. Dutzende von Ländern, die ihren eigenen Unabhängigkeitstag feiern und gegen den Kolonialismus gekämpft haben, sind dafür, die Kurden in einem Land zu halten, zu dem sie nicht gehören wollen. Nicht nur, dass sie dafür sind, sie im Irak zu halten, sie wollen sie noch nicht einmal eine Abstimmung darüber abhalten lassen, ob sie gehen wollen.

In den letzten Jahrzehnten haben Länder wie der Kosovo, der Südsudan und Osttimor die Unabhängigkeit erlangt, oft nach einem Referendum. Westliche Staaten haben Referenden auch bei sich als legitime Verfahrensweisen anerkannt. 1995 gab es ein Referendum in Quebec, 2014 in Katalonien und in Schottland, 2016 wurde in Großbritannien über den Austritt aus der EU abgestimmt. Das ist nur der Anfang einer langen Liste. Montenegro hatte 2006 ein Referendum, die Bermudas 1995, Curacao 1993, Eritrea 1993, Bosnien 1992; in 14 Staaten wurde 1991 ein Referendum abgehalten, darunter in der Ukraine. Norwegens langes Streben nach Unabhängigkeit von Schweden endete 1905 mit einem Referendum. In Puerto Rico gab es fünf Referenden über die Unabhängigkeit. Viele der Staaten, die gegen das kurdische Referendum sind, haben all diese anderen Referenden unterstützt und dabei sogar eine Rolle gespielt.

In einer normalen Welt würden viele Staaten das Recht der Kurden auf eine Abstimmung unterstützen. Sie würden sich ihr zumindest nicht widersetzen. Doch dies ist keine normale Welt. Es gibt in westlichen Demokratien eine heuchlerische Haltung, die sich dagegen richtet Demokratie in anderen Ländern zuzulassen. Demokratie und Unabhängigkeit werden als ein immer exklusiver werdender Club behandelt. Das zeigt sich klar an Spaniens jüngsten Schritten gegen die katalonischen Versuche ein Referendum abzuhalten: Polizeirazzien, Geldstrafen und alles Mögliche andere, um diese Bestrebungen zu vereiteln – dazu gehört auch, die Katalanen als „ungehorsam“ zu schelten.

Die Kurden wollen nur aufgezwungene Grenzen ändern
Eine normale Welt würde die Unabhängigkeit der Kurden unterstützen, doch diese Welt lebt im Schatten des Kolonialismus, und viele ehemalige Kolonialmächte weigern sich immer noch anzuerkennen, dass die einheimischen Völker das Recht haben, die Grenzen zu ändern, die jene der Welt aufgezwungen haben. Die Kolonialmächte zogen die meisten Grenzen in Afrika, dazu viele Grenzen im Nahen Osten und in Asien. Jedes Mal, wenn einheimische Gruppen versuchen, diese Grenzen zu ändern, sind die ehemaligen Kolonialmächte entsetzt. Dies hat zu massenhaftem Töten geführt – wie in den 1960er Jahren in Biafra –, da Völker gezwungen werden, in Ländern zu leben, die ihnen nie das Recht gaben zu entscheiden, ob sie ein Teil davon sein wollen. Viele Konflikte sind auf diese kolonialen Grenzen zurückzuführen.

Der fortwährende Konflikt in Kaschmir etwa gehört dazu, ebenso wie viele der Streitigkeiten, von denen der Nahe Osten geplagt ist, sowie die Konflikte im Kaukasus, am Horn von Afrika und in der Sahelzone. Der Unwille Selbstbestimmung zu dulden hat zu den Konflikten um Zypern und die Westsahara geführt. Das lange Leiden Osttimors war dadurch verursacht worden. Das Gebiet Myanmars, aus dem die Rohingya heute flüchten, wurde von Burma annektiert, nachdem die britische Kolonialherrschaft geendet hatte. Einst war es autonom gewesen. Oft steckten die Kolonialisten Gruppen in Staaten, ohne sie zu fragen, und ließen diese Länder dann mit schwelenden ethnischen Konflikten zurück. Manche dieser Konflikte führten zu Genoziden, wie im Sudan und in Ruanda. An vielen anderen Orten gab es Massentötungen und ethnische Säuberungen. Die Obsession von „Einheit“ und „Souveränität“ künstlicher Staaten wie dem ehemaligen Jugoslawien mündete in ethnische Konflikte.

Anderen Völkern wurde erlaubt, was den Kurden verwehrt wird
In einer normalen Welt würde nichts von alldem passieren. Staaten würde erlaubt, ihren eigenen Weg zu gehen, so wie es die Tschechen und Slowaken getan haben. Völker würden entscheiden, so wie es die Schotten getan haben. Länder würden keine langen, blutigen Unabhängigkeitskriege führen müssen. Warum Leute in einem Land halten, zu dem sie nicht gehören wollen? Wenn eine Gruppe eine autonome Region betreibt – warum sie zwingen zu bleiben? Der UN-Sicherheitsrat ignorierte einst das Leiden der Kurden unter Saddam Hussein, heute aber ist derselbe Rat sich einig in dem Versuch eine Abstimmung der Kurden zu verhindern? Warum hat er Saddam nicht davon abgehalten 180.000 Kurden zu ermorden und 4.000 Dörfer zu zerstören? Warum eilen die UNO und die westlichen Demokratien herbei, um eine Abstimmung zu stoppen, aber nicht, um einen Völkermord zu stoppen?

Eine Geschichte der Heuchelei
Am 20. September veröffentlichte das US-Außenministerium eine Erklärung, die sich dem Referendum „stark widersetzt“. Es behauptet, „alle Nachbarn des Irak und so gut wie die gesamte internationale Gemeinschaft sind ebenfalls gegen das Referendum. Die Vereinigten Staaten drängen die Führer der irakischen Kurden, die Alternative zu akzeptieren: einen ernsthaften und nachhaltigen Dialog mit der Zentralregierung – vermittelt durch die Vereinigten Staaten und die Vereinten Nationen und andere Partner – über alle wichtigen Fragen, darunter das Verhältnis zwischen Bagdad und Erbil.“ Der kurdischen Regionalregierung wird gedroht, sollte sie keinen Rückzieher machen, würden „alle internationalen Angebote zur Unterstützung von Verhandlungen zurückgezogen“. Außerdem könne das Referendum „die regionalen Handelsbeziehungen von Irakisch-Kurdistan sowie internationale Hilfe aller Art gefährden“. Im Stil einer neokolonialen Depesche behauptet die Erklärung, das Referendum sei überflüssig, da die USA ja bereits einen „Alternativweg“ vorgeschlagen hätten.

Dreimal in nur einer Woche drohen die USA
Dies war die dritte Verurteilung des kurdischen Referendums durch die USA in einer Woche. Am 14. September hatte Brett McGurk, der Sondergesandte des Präsidenten für die globale Koalition gegen den IS, in Erbil gesagt: „Dies ist nicht nur die Position der Vereinigten Staaten, es ist die Position der gesamten internationalen Koalition, bei deren Führung ich mithelfe. All diese Länder sind zu uns gekommen und haben gesagt, dass sie das nicht unterstützen.“ Er behauptete: „Es gibt keine internationale Unterstützung für dieses Referendum, wirklich nicht, von niemandem. Für ein legitimes Verfahren braucht man Beobachter, die Vereinten Nationen und internationale Legitimation. Und für dieses Prozedere gibt es keine internationale Legitimation.“ Am 15. September sagte auch das Weiße Haus, dass es das Referendum nicht unterstützt.

Orwellsche Welt: USA Seit an Seit mit dem Iran?
Am 15. September sprach US-Außenminister Rex Tillerson zur Community of Democracies in Washington und sagte, es sei wichtig, keimende Demokratien zu unterstützen. Die Vereinigten Staaten leisten oft Lippenbekenntnisse für die Demokratie, doch wenn es um das kurdische Referendum geht, stehen sie an der Seite des Iran, an der Seite totalitärer Staaten, an der Seite von Ländern, die die größte Zahl von Journalisten einsperren, an der Seite von Monarchien und der von religiösen Milizen: einer der Gründe, gegen das Referendum zu sein, so heißt es ja in der Erklärung, sei, dass alle „Nachbarn“ ebenfalls dagegen seien.

Viele der Mitglieder des UN-Sicherheitsrats, die das Referendum verurteilt haben, wissen, was Unabhängigkeit bedeutet. Uruguay etwa hatte einen langen Kampf um Unabhängigkeit, der 1811 unter José Gervasio Artigas begann. Doch das Land erhielt seine Unabhängigkeit nicht vor 1828. Es kämpfte in brutalen Kriegen mit seinen Nachbarn und inneren Konflikten, die bis in die 1850er Jahre dauerten. Ägypten wurde 1922 formal unabhängig, musste aber jahrzehntelang kämpfen, um sich von Kolonialherrschaft zu befreien. Bolivien begann seinen Unabhängigkeitskampf 1809, musste aber bis 1825 warten, ehe es volle Unabhängigkeit erhielt. Bolivien ist nach Simon Bolivar benannt, dem Helden der Unabhängigkeit eines Teils Lateinamerikas. Äthiopien musste ebenso um Freiheit kämpfen, gegen zahlreiche Kolonialisierungsversuche, insbesondere durch Italien in den 1930er Jahren. Auch Senegal und Kasachstan kennen das Bedürfnis nach Unabhängigkeit. Die Ukraine, die selbst einen Krieg gegen Separatisten führt, kennt die Gefahren der Fremdherrschaft, unter der sie in der Sowjetära litt. Italien, in der Geschichte oft Beute kriegführender Staaten, hatte sein eigenes Risorgimento im 19. Jahrhundert.

Die permanenten Mitglieder des Sicherheitsrats wiederum kennen nicht nur den Kampf um Unabhängigkeit, sondern haben auch eine Verantwortung – die sich aus ihrer Rolle während des Kolonialismus ergibt –, Unabhängigkeit und Selbstbestimmung zu unterstützen. Die USA haben 1776 auf berühmte Weise ihre Unabhängigkeit erklärt. Hätten sie sich 1776 beim Zweiten Kontinentalkongress an die Forderungen gehalten, die sie heute an Kurdistan stellen, hätten sie die Unabhängigkeit nicht erklärt. Die US-Erklärung gegen eine Großmacht war „riskant“ und enthielt nicht genügend „konstruktiven Dialog“. Sie war zudem „unilateral“ und betraf „umstrittene Gebiete“. Und doch machten die Amerikaner damals nicht Halt.

Man lese die amerikanische Unabhängigkeitserklärung und beachte, wie gut sie auf die kurdischen Bestrebungen passt:

„Wenn es im Lauf menschlicher Begebenheiten für ein Volk nötig wird, die politischen Bande, wodurch es mit einem andern verknüpft gewesen, zu trennen, und unter den Mächten der Erden eine abgesonderte und gleiche Stelle einzunehmen, wozu selbiges die Gesetze der Natur und des Gottes der Natur berechtigen, so erfordern Anstand und Achtung für die Meinungen des menschlichen Geschlechts, dass es die Ursachen anzeige, wodurch es zur Trennung getrieben wird.“
-Amerikanische Unabhängigkeitserklärung

In der Geschichte haben die USA die Selbstbestimmung von Regionen wie dem Kosovo, dem Südsudan und Osttimors unterstützt. Selbstbestimmung war im Zentrum von Woodrow Wilsons Politik, als Amerika in den Ersten Weltkrieg eintrat. Franklin Roosevelt stellte sicher, dass Selbstbestimmung ein wesentlicher Teil der von Großbritannien 1941 unterzeichneten Atlantikcharta war und ein leitendes Prinzip des Zweiten Weltkriegs. Im Allgemeinen haben die USA die Unabhängigkeit neuer Staaten gegen Ende der Kolonialherrschaft anerkannt und unterstützt, verstärkt unter John F. Kennedys Vorbehalt „Unterstütze jeden Freund, bekämpfe jeden Feind“.

Der Vergleich zum Brexit
Großbritanniens Opposition gegen das kurdische Referendum ist vor allem deshalb so ironisch, weil sein Außenminister Boris Johnson das britische Referendum über den EU-Austritt unterstützt hat. Johnson sagte, beim Brexit gehe es „um das Recht des Volkes dieses Landes, sein eigenes Schicksal zu bestimmen“. Großbritannien sah der Unabhängigkeit vieler seiner ehemaligen Kolonien zu und erkennt seit Jahrzehnten das Recht von Völkern an, die nach Unabhängigkeit streben. Es hat neue unabhängige Staaten wie den Kosovo anerkannt. Auch die Russische Föderation unterstützt viele kleine Staatengebilde wie etwa in Südossetien, Abchasien und Transnistrien. Wenn Russland die Rechte separatistischer Gruppen in der Ukraine unterstützen kann, warum stellt es sich nicht auf die Seite der Selbstbestimmung der Kurden? Die Ukraine, die 1991 ihr eigenes Referendum hatte, ist in der UNO gegen die kurdische Abstimmung.

Das Recht von Gruppen wie den Kurden, nach Unabhängigkeit zu streben, wird sogar von der Charta der Vereinten Nationen garantiert, die sich für „freundschaftliche Beziehungen unter den Nationen auf der Basis von Respekt und dem Prinzip gleicher Rechte und der Selbstbestimmung der Völker“ ausspricht. Die Resolutionen 1514 und 1960 der UN-Generalversammlung besagen, dass alle Völker das Recht auf Selbstbestimmung haben und darauf, „ihren politischen Status frei zu bestimmen“.

Gründe, die kurdische Unabhängigkeit zu unterstützen
Neben den allgemeinen Gründen wie der Selbstbestimmung, die andere Länder der Welt ebenfalls angestrebt haben und die in der UN-Charta verankert ist, gibt es zahlreiche besondere und historische Gründe, das Recht der Kurden auf ein Referendum zu unterstützen.

Die Kurdenregion wurde in den frühen 1920er Jahren dem modernen Staat Irak einverleibt. Während der irakischen Rebellion von 1920 war sie eine Region des Aufruhrs gewesen und vom modernen Staat Türkei für sich beansprucht worden, die Mossul für sich haben wollte. Die Briten setzten im Irak einen König ein, der nicht aus dem Irak stammte, und verkündeten 1932 ein Königreich und „Unabhängigkeit“. König Faisal wollte Mossul und die kurdischen Gebiete im Irak, um in seinem neuen Staat die demografische Stellung der Sunniten zu stärken. 1926, als der Ständige Internationale Gerichtshof in Den Haag entschied, dass Mossul dauerhaft Teil des Irak bleiben würde, war es den Briten bereits gelungen, die Region zu befrieden. Die einheimische Bevölkerung – ob Kurden oder Araber in Mossul oder Turkmenen in Tal Afar und Kirkuk – war nie gefragt worden, ob sie Teil des neuen Landes sein wollte, das Irak genannt wurde.

Der künstliche Staat Irak
Angesichts des kolonialen Erbes ist es nur vernünftig, dass es den Kurden gestattet werden sollte, die Entscheidung über ihre Zukunft zu treffen, die ihnen 1920 verwehrt worden ist. Das gilt umso mehr, als der Irak solche Verbrechen an ihnen begangen hat.
Die kurdische Regionalregierung ist seit dem kurzen Bürgerkrieg Mitte der 1990er Jahre eine Region der Stabilität. Sie hat auf den Ruinen, die Saddam Hussein 1991 hinterlassen hatte, internationale Flughäfen und moderne Städte gebaut. Sie hat ausländische Investitionen angezogen und, vor dem Aufstieg des IS, Touristen in die Region gelockt. In dem Irak nach 2003 spielte sie eine Schlüsselrolle beim Kampf gegen den Aufstand und dabei, ein Gebiet des Friedens zu schaffen, ohne die massenhaften ethnische Säuberungen und konfessionell motivierten Tötungen, wie es sie in den anderen Teilen des Irak gab.

Kurdistan ist ein Hort der Stabilität innerhalb des Irak
Anders als der übrige Irak, der Alkohol verbieten will und immer mehr von pro-iranischen religiösen Milizen dominiert wird, hat die kurdische Region Millionen von Vertriebenen aufgenommen, die vor dem IS und der religiösen Gewalt in anderen Teilen des Irak geflohen sind. 2015 machten diese Flüchtlinge 35 Prozent der Bevölkerung in der Kurdenregion aus. Nicht nur das: Sie ist auch der einzige Platz im Irak, wo Diversität und Gemeinschaften von Minderheiten seit den 1990er Jahren gedeihen. Anders als Mossul, das von Christen, Jesiden und anderen Gruppen gesäubert wurde, besitzt die kurdische Region Diversität und hat die christlichen und jesidischen Flüchtlinge aufgenommen, die vor dem IS geflohen sind. Nichts von alldem geschah ohne interne politische Streitereien und Kontroversen; doch schaut man auf die Bilanz des übrigen Irak, dann sollte man die kurdische Region preisen und ihre Wünsche unterstützen. Sie ist keine Quelle von Instabilität, sondern von Stabilität.

Der Grund für die Opposition gegen die kurdischen Bestrebungen hat viel mit der Invasion von 2003 zu tun. Auf vielerlei Weise war die US-Invasion gut für die kurdische Region, die seither profitiert hat. Weil aber die USA ihrem eigenen Verständnis nach das Erbe der Briten von 1920 antreten und den Irak und den Nahen Osten im Stile des neokolonialen Orientalismus restaurieren, kann es den Kurden nicht erlaubt werden, den Irak zu verlassen – weil dies der US-Politik den Makel des Gescheiterten aufdrücken würde. Die US-Politik ist im Irak seit 2003 zweimal gescheitert. Zum ersten Mal 2003, während des Aufstands, als die Truppenaufstockung (surge) nötig wurde; und noch einmal 2014, als die USA, nachdem sie das Land bereits verlassen hatten, zurückkehren mussten, um gegen den IS zu kämpfen.

Die USA betrachten die Kurden als Bürde, da sie sich ihrer sicher sind und erwarten, dass sie „gehorsam“ sind und keine Forderungen stellen. Von ihnen wird erwartet, dass sie für Stabilität, Sicherheit, Diversität und Demokratie sorgen, obendrein werden sie nach schärferen Maßstäben gemessen – während der Rest des Irak, wo es anti-amerikanische Milizen, ethnische Säuberungen, Genozide und Gewalt zwischen den ethnischen und religiösen Gruppen gibt, auf die Hilfe und Unterstützung der USA angewiesen ist. Das ist die Ironie der heuchlerischen westlichen Politik: Je demokratischer und stabiler ein Land ist, desto mehr trachtet der Westen danach, ihm zu helfen, wie man „gescheiterten“ und „regierungslosen“ Gebieten hilft.

Was treibt die USA um?
Die naive Art, wie die USA den Irak seit 2003 gesehen haben, zeigt sich in den „Tour“-Berichten einiger derer, die damals im Auftrag der amerikanischen Politik im Irak unterwegs waren. In einem Text von 2004 heißt es: „Dank der umfangreichen Arbeit der Coalition Provisional Authority, von USAID und der US-Streitkräfte in der Gegend hat die US-Regierung exzellente Arbeitsbeziehungen mit den örtlichen Stammes- und politischen Führern entwickelt. Ein Besuch, den das Kirkuk Embassy Regional Office PolOffs am 15. Juli zwei dieser Dörfer abstattete – Rashad and Yaychi –, zeigt, wie sich die Dorfbewohner an das Leben nach dem Übergang anpassen.“ Das hat eine neokoloniale Anmutung. Doch man kann sich die Verzweiflung vorstellen, als diese Gebiete erst Al-Qaeda und später dem IS in die Hände fielen. Das bedeutet: Statt Geld ausgeben zu wollen, um die Kurden zu unterstützen, investieren die USA lieber politisches und wirtschaftliches Kapital in jene Gebiete, die dem Extremismus anheimfallen. Je stärker eine Region pro-iranisch eingestellt ist, desto mehr sind die USA darauf erpicht, mit ihr zusammenzuarbeiten – nach der Theorie, dass sie „zurückgeholt“ werden könne. Das ist der Grund, warum die US-Regierung die Kurden 2008 und danach immer wieder gewarnt hat, nicht nach Unabhängigkeit zu streben, weil sie anderenfalls Gefahr liefen, „alles zu verlieren“. Die Kurden haben mehr zu verlieren, darum funktionierten solche Drohungen.

USA lassen die irakische Annäherung an den Iran geschehen
Heute haben Bagdads Herrscher eine Transformation vom arabisch-nationalistischen Ba’ath-Regime zur pro-iranischen Herrschaft durchlaufen. Die Kurden aber sind immer noch „die Anderen“. Statt mit den „Anderen“ zusammenzuarbeiten, haben sich die USA an Bagdad gekettet. Zwar hat Washington den Peschmerga etwas Unterstützung zukommen lassen, in Form von Gehältern und Ausbildung. Doch die Vorstellung ist die, dass die Kurden im Gegenzug nicht „unilateral“ handeln. Bagdad auf der anderen Seite darf so eng mit dem Iran kooperieren, wie es will. Obwohl die USA sich offiziell dem Iran widersetzen, bewerten sie dessen Rolle im Irak als eher konstruktiv und legitimieren diese verwirrende Lage.

Haben die Kurden nach so vielen Jahren nicht die Chance verdient über ihre Zukunft abzustimmen? Warum opponieren westliche Demokratien gegen dieses Recht, insbesondere wo einige westliche Länder eine Schlüsselrolle beim Kolonialismus gespielt haben, der die Kurden dazu gezwungen hat, im Irak zu leben, und ihnen diese Wahl vor hundert Jahren verwehrt hat?

In einer normalen Welt würden die Kurden in ihrem Wunsch nach Unabhängigkeit, den jede andere Gruppe der Welt ebenfalls hegt, unterstützt. Doch dies ist keine normale Welt.

Übersetzung ins Deutsche von Stefan Frank

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