Zuwanderungskonflikte, Religionsdifferenzen, Nahostkonflikt, politisierte Eigeninteressen. Michael Wolffsohn analysiert, weshalb das Verhältnis zwischen Jüdischem Staat und Diaspora komplizierter geworden ist 

Juli 3, 2014 – 5 Tammuz 5774
Israel und «Wir»

Franzosen reden meistens über Frankreich.
Engländer reden meistens über England,
Deutsche nicht über Gott, aber gerne über
alles und die Welt, die sie oft und gerne belehren.
Wir Juden reden meistens über Juden
und auch über Israel. Egal, ob wir in Israel,
Deutschland, den USA oder auf dem Mond leben.
So ist die Welt und fast jedes Volk meint,
es wäre «über alles in der Welt». Das darf
man getrost bezweifeln. Doch ebenso wie sich
(allen artigen Dementis zum Trotz) fast jeder
Einzelmensch in erster Linie mit sich selbst
befasst und für den Mittelpunkt des Kosmos
hält, betrachtet jede Gemeinschaft, jede Nation,
jedes Volk zunächst und vor allem sich
selbst. Was also liegt näher, als dass sich eine
neue jüdische Zeitschrift und ein jüdischer
Autor einem für Juden immer wieder (scheinbar)
neuen, jedenfalls hoch beliebten Thema
widmet: «Israel und wir».

Doch von welchem Israel soll hier eigentlich
die Rede sein? Und wer sind «wir»? Das
ist nur auf den ersten Blick klar. Es gibt viele
Israels, genauer: viele Teilgesellschaften im
jüdischen Staat. Und wir Diaspora-Juden sind
auch alles andere als eine Einheit. Ganz nüchtern
betrachtet, hat das gerade in Bezug auf
Israel eine Menge Konsequenzen. Orthodoxe
Juden aus unserem jüdischen «Wir» pflegen
zu Israel beispielweise ein ganz anderes Verhältnis
als weltlich-areligiöse. Doch was ist
überhaupt ein orthodoxer Jude, und wie steht
er oder sie zu welchem Teil der jüdisch-israelischen
Gesellschaft? Ich versuche eine Systematik
und erhebe dabei keinen Anspruch auf
Vollständigkeit. Meine These vorweg: Es gibt
kein einheitliches Verhältnis der Diasporajuden
zu Israel, und nur Diasporajuden seien
hier als «Wir» gemeint. In einem aber scheinen
sich fast alle einig: Wenn es für «die» Juden
hart auf hart kommt, um Sein oder nicht
Nicht-Sein geht, dann könn(t)en sie sich jederzeit
nach Israel retten. Und das war bekanntlich
vom Jahre 70 u. Z. bis 1948 - vor allem
während des Holocaust - anders. Im Klartext:
Israel ist die ultimative Rück-Versicherung
aller Juden. Doch wie bei fast jeder Versicherung
wünschen sich die Versicherten, diese
möglichst nicht zu benötigen. Ich weiß: Manche
werden diesen Satz für Ketzerei halten.
Dem möchte ich mit Fakten entgegnen, und
die sprechen eine klare Sprache. Vor und nach
dem «Russenexodus» der Jahre 1973/90 bis
ca. 2000 gab und gibt es jüdische Einwanderung
nach Israel, das heißt Alijah, nur «tröpfchenweise
».

Doch anstelle von Diaspora-Juden stehen
heute zigtausende – manche (bekanntlich oft
irrende) Experten schätzen deren Zahl sogar
auf «Millionen»-Schlange vor den Toren des
Jüdischen Staates. Sie wollen, aber sie können
sich nicht in Israel niederlassen. Afrikaner,
vornehmlich aus dem Süd-Sudan, teils aber
auch aus dem islamistischen Nord-Sudan –
wohl gerade wegen des dort herrschenden Radikal-
Islamismus-, aus Äthiopien und Eritrea.
Jetzt ist der auch gegen islamistische Terroristen
gerichtete Grenzzaun zu Ägypten dicht,
und Israel schiebt bereits eingereiste Migranten
vielfach wieder ab, um den jüdischen Charakter
des Staates zu bewahren.

Das führt zu zweierlei heftigen Reaktionen:
Manche Nichtjuden, die sich selbst gerne
«Freunde der Juden» nennen, bezeichnen absichtlich
provokativ – und eindeutig negativ –
den Sperrzaun als «Mauer» und verdammen
den «Rassismus» Israels. Auch wahre
Freunde Israels sind verunsichert. Wie der
Pawlowsche Hund reagiert darauf die Diaspora-
jüdische Seele und spricht von neuem Antisemitismus.
Mag sein. Es stärkt jedenfalls das
jüdische Gemeinschaftsgefühl auch jenseits
des Zentralrates der Juden und anderer jüdischer
Körperschaften. Aber auch dies wirft
Fragen auf: Brauchen wir als «Israel-Kitt» die
Israel-Kritik der Israel-Gegner, -Nichtfreunde
und – Zweifler?

Dennoch: In allerjüngster Zeit zeigt sich ein
kleiner, aber nicht zu unterschätzender Trend
einer neuen Alija, von zuletzt rund 24.000
Juden. Der Großteil von ihnen kommt aus
Frankreich, weil dort der islamistische Terror
immer häufiger zuschlägt, doch der Staat
sicherheitspolitisch versagt hat. Und seit dem
brutalen Anschlag auf das Jüdische Museum
in Brüssel am 24. Mai ist auch die jüdische
Gemeinschaft in Belgien hochgradig verunsichert.
Die nicht zu bestreitende quantitative
Islamisierung der westeuropäischen und auch
der deutschen Bevölkerung führt zu einer
qualitativ ganz und gar neuen Lebenssituation
für die Juden. Indem sich zugleich ein nicht
unerheblicher, zumindest außerordentlich aktiver
Teil – wahrlich nicht alle! – der westeuropäischen
Muslime, aus welchen Gründen auch
immer, einem militanten Islam zuwendet,
wird jüdisches Sein in Deutschland und Westeuropa,
im wahrsten Sinne des Wortes, brenzlig.
Es hat schon mehrfach gebrannt, es könnte
noch mehr brennen. Fliehen wir dann nach Israel?
Die meisten Juden wohl eher nicht, aber
sicherlich mehr als bisher. Überraschendes
Fazit ohnehin: Je islamischer die europäische
Diaspora, desto jüdischer wir, egal ob religiös
oder nicht religiös jüdisch.


Michael Wolffsohn, Prof. em. für Neuere
Geschichte, Bundeswehruniversität
München, geb. 1947 in Tel Aviv; Bücher
u. a: Israel (8. Auflage 2014), Wem gehört
das Heilige Land? (10. Auflage 2013);
Juden und Christen (2. Auflage 2008)

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