Warum das Land unter Präsident Erdogan kein verlässlicher Bündnispartner für den Westen ist  

Juli 8, 2016 – 2 Tammuz 5776
Die Türkei muss raus aus der NATO!

Von Maximilian Breitensträter

Terroranschläge, Ermächtigungsgesetz, Panzer gegen Kurden, ein autoritärer Herrscher, der von der alleinigen Macht träumt. Die Türkei sorgt in diesen Tagen für reichlich Negativschlagzeilen. Nahezu täglich taucht der türkische Präsident Reycep Tayip Erdogan, der Protagonist an der Spitze der „neuen Türkei“, in den deutschen Medien auf. Ja, man könnte meinen, Erdogan habe hierzulande ein politisches Mandat inne. So häufig flimmert der alt-bekannte Schnauzbart über die Fernsehbildschirme. So häufig ist das Konterfei des Möchtegernsultans auf den Titelseiten der Zeitungen zu sehen.

Und stets hat Herr Erdogan irgendetwas zu motzen. Mal fühlt er sich persönlich beleidigt und will einen Late-Night-Satiriker wegen angeblicher Majestätsbeleidigung verknacken lassen. Ein anderes Mal will er eine Abstimmung des Bundestages zur offiziellen Anerkennung historischer Tatsachen verhindern. Die Rede ist von der Anfang Juni verabschiedeten Resolution zur Bezeichnung des vom Osmanischen Reichs 1915/16 begangenen Völkermords an den Armeniern als – naja, Völkermord an den Armeniern. Ein wieder anderes Mal tobt Herr Erdogan dann vor Wut, weil eben diese Resolution von einer breiten Mehrheit der Abgeordneten angenommen wurde. Die souveräne Entscheidung eines Verfassungsorgans. Könnte man meinen. Für Erdogan ein Unding, hat er doch in seiner Heimat dafür gesorgt, dass die Verfassungsorgane keine souveränen Entscheidungen mehr treffen.

So zeigt Herr Erdogan sich dann auch von Bundeskanzlerin Angela Merkel bitterböse enttäuscht. Als ob sie persönlich die Annahme der Resolution hätte verhindern können. Türkische Politikverhältnisse gibt es in Deutschland noch nicht. Merkel war ja nicht einmal bei der entscheidenden Abstimmung zugegen. Übrigens ebenso wenig wie Vizekanzler Sigmar Gabriel, der einen wichtigen Termin hatte und Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der sich zur dieser Zeit gerade in Argentinien aufhielt. Nach Südamerika flüchten, wenn es zuhause brenzlig wird, das ist auch eine gute alte deutsche Tradition. Aber genug des Zynismus. Dass die drei bei der Abstimmung zur Resolution nicht dabei waren, ist sicher so einer von diesen Zufällen, bei denen Du glaubst, die gibt es gar nicht.

Zurück zu Erdogan. Der wetterte natürlich weiter gegen die Resolution. Und forderte den Bluttest für türkischstämmige Abgeordnete. Bitte was? Einen Bluttest? Aber natürlich, einen Test im Labor zur Untersuchung, ob da denn auch „echtes türkisches Blut“ in diesen verräterischen Adern von Cem Özdemir, Özcan Mutlu und Co. fließt. Erdogan bezweifelt das nämlich und weiß sowieso schon, welches Ergebnis solch ein Test hervorbringen würde. Ein „wahrer Türke“ könne doch gar nicht für diese Resolution gestimmt haben. „Dort (im Bundestag) soll es elf Türken geben. Von wegen. Sie haben nichts mit dem Türkentum gemein. Ihr Blut ist schließlich verdorben. Ihr Blut muss durch einen Labortest untersucht werden“, so Erdogan wörtlich, der noch einen drauf legte, indem er die Abgeordneten als verlängerten politischen Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK in Deutschland bezeichnete. Kleine Notiz am Rande: Diese unumwunden völkisch-rassistischen Auslassungen hat der Staatspräsident nicht etwa hinter vorgehaltener Hand oder beim Veteranentreffen der Grauen Wölfe abgelassen, sondern in einer Rede an der Istanbuler Sebahattin-Zaim-Universität während einer Graduierungsfeier zum Ende des akademischen Semesters.

Der rassistische Kult ums Türkentum findet in der Türkei eine breite Anhängerschaft. In Deutschland fühlten sich Unterstützer Erdogans in nationalistischer Wallung animiert und riefen über soziale Netzwerke zum Mord an den „Verrätern“ auf. Die Abgeordneten und ihre Familien stehen seither unter Polizeischutz. Abstimmungen im Bundestag „werden nicht davon abhängig gemacht, welcher autoritäre Herrscher damit glücklich ist und welcher nicht“, erklärte der Parteivorsitzende der Grünen und Mitinitiator der Resolution, Cem Özdemir. Er wird selber massiv bedroht. Alle Achtung, dass er sich nicht hat einschüchtern lassen und weiterhin die Wichtigkeit der Resolution betont.

Die türkische Gesellschaft hat ein ernsthaftes Rassismus-Problem
Die türkischen Reaktionen auf die Resolution verdeutlichen einmal mehr, welch Geistes Kind Erdogan und viele seiner Unterstützer im In-und Ausland sind. Erdogan war noch nie um nationalistische Kommentare verlegen. Seine Rhetorik ist in den letzten Monaten aber immer schärfer geworden. Und das hat innenpolitisches Kalkül. Um sein Vorhaben eines Präsidialsystems umzusetzen, ist er auf die Unterstützung der Abgeordneten der ultranationalistischen MHP angewiesen. Eine Verfassungsänderung kann Erdogan mit der ihm treu ergebenen islamischen AKP in der momentanen Zusammensetzung des Parlaments nicht alleine durchsetzen. Als Steigbügelhalter kommen nur die Ultranationalisten in Frage. Die dürften Erdogans Gerede von Bluttests und Türkentum ebenso mit Entzücken aufgenommen haben, wie schon im Mai die Aufhebung der Immunität der großen Mehrheit der kurdischen Abgeordneten.

Wer nun aber meint, Erdogans völkisch anklingender Nationalismus sei alleinig Ausdruck politischer Taktik, der irrt. Die türkische Gesellschaft hat ein ernsthaftes Rassismus-Problem. Erdogan ist Ausdruck dieses Problems und sorgt als Präsident für eine Legitimation von höchster Stelle. Geschickt setzt er den Nationalismus in Kombination mit einem islamischen Konservatismus als politisches Mittel ein, um weite Teil der Wählerschaft hinter sich zu versammeln. Man stelle sich nur einmal vor, der Präsident eines europäischen Landes odereines anderen NATO-Mitgliedsstaats hätte sich in ähnlicher Weise geäußert, wie Erdogan es in Bezug auf die Armenien-Resolution getan hat. Das politische Aus wäre vorprogrammiert. Nicht so in der Türkei, in der Akademiker andächtig dem Rassismus des Präsidenten lauschen und Applaus schenken. Es ist auch diese spezielle Form des türkischen Rassismus, die dem Konflikt mit den Kurden zugrunde liegt und eine Lösung bis heute verhindert. Das Problem sind nicht die Kurden mit ihrer Forderung nach nationaler Selbstbestimmung und regionaler Autonomie, sondern das türkische Überlegenheitsdenken. Der türkische Staat unter Führung Erdogans will bestimmen, wo und wie die Kurden leben sollen, welche Sprache sie sprechen sollen, wie eine richtige Lösung des Konflikts aussehen sollte. Deshalb hat er den „Friedensprozess“ und damit auch den Waffenstillstand mit der PKK aufgekündigt. Die Kurden als gleichberechtigte Partner? Das geht gar nicht! Leisten die Kurden gegen diese Bevormundung Widerstand, sind sie sofort „Terroristen“ und „Verräter“. Es ist diese Denkweise, die der Forderung nach einem Bluttest für türkischstämmige Abgeordnete in Deutschland zugrunde liegt. Wer nicht für mich ist und meine Meinung nicht teilt, ist kein wahrer Türke, ein Verräter, ein PKK-Anhänger. (…)

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