Die Hisb’Allah ist gefährlicher denn je für Israel  

Juli 8, 2016 – 2 Tammuz 5776
Die Ruhe trügt

Von Ulrich Jakob Becker

Nach Jahren der relativen Ruhe an Israels Nordgrenze rüstet die Hisb'Allah trotz Verlusten in Syrien aktiv für den dritten Libanonkrieg.

Im Nordsinai und im Südgolan steht der IS längst an Israels Grenzen und die Hamas rüstet fleißig weiter, baut Bunker und Tunnel für den nächsten Gasakrieg. In Syrien und Irak geht ein regionales schiitisch-sunnitisches Kräftemessen in blutigen Gefechten und Massakern weiter und da war doch noch jemand… Ja, was ist eigentlich aus Israels nahem Feind No. 1 geworden?

Seit mehr als drei Jahrzehnten ist die Hisb‘Allah, die schiitische „Partei Allahs“, Israels größte direkte Bedrohung, die immer wieder zum Angriff übergeht. Aber heute?
Ist die Hisb'Allah nicht aufgerieben und kampfesmüde durch die nicht enden wollenden Gefechte und Verluste in Syrien – gerade wieder in den letzten Wochen? Oder ist sie jetzt nur noch kampferfahrener und besser ausgerüstet für den nächsten Krieg mit Israel? Und was wird mit Israels Nordgrenze zum Libanon und Syrien, wenn Hisb‘Allah, Iran und Co. den schwächelnden IS bald besiegt haben sollten und die Ayatollahs sich unter einem russischen Luftabwehrschirm sonnend, Galiläa und den Golan aus der Nähe betrachten können?

Man könnte meinen, es sei still geworden um die Hisb‘Allah. Die letzten Terrorangriffe an der libanesischen und syrischen Grenze liegen schon eine Weile zurück, die letzten Anschläge im Ausland noch weiter. Israel sieht hin und wieder besorgt auf die Hamas in Gasa, ihre Raketen und Tunnel, während die Welt vornehmlich mit dem IS beschäftig ist und seiner Grausamkeit und Anschlägen in Europa und den USA.
Die Hisb‘Allah und der Iran scheinen mucksmäuschenstill und abgetaucht zu sein, obwohl sie in der vordersten Reihe mitmischen.

Der weitgehende plötzliche Zusammenbruch und Rückzug der irakischen Streitkräfte unter dem schiitischen Premier Al-Maliki in Zentral- und Nordirak im Sommer 2014 gegen eine auf dem Papier nicht einmal annähernd ebenbürtige Terrormiliz mit dem damals wenig bekannten Namen ISIS, katapultierte den Iran und später auch die Hisb‘Allah in eine neue, ungeahnte regionale Rolle.
Al-Maliki rief damals in seiner Not „freundliche Regierungen“ zu Hilfe – „ISIS ante Bagdad!“. Die USA unter Präsident Obama vergaßen alle Hemmungen und machten den Iran zum Waffenbruder gegen das „schlimmere Übel“ ISIS. Iran am Boden und die USA in der Luft darüber. Wer hätte das gedacht?

Heute rücken „schiitische Milizen“ – wie man sie gerne nennt, wenn man nicht unbedingt von iranischen Soldaten und Revolutionsgarden schreiben will – immer weiter gen Norden vor, vernichten die sunnitischen IS-Verbände langsam, aber systematisch in einer Stadt nach der anderen und es kommt schon zu Scharmützeln mit Kurden, die vom Norden gegen IS vorgehen. Zur gleichen Zeit kämpft der Iran und seine treue libanesische Hisb’Allah-Miliz auch in Syrien – hier zur Abwechslung mit russischer Luftwaffe über ihnen und gegen sunnitische Rebellen, die vom Westen und den USA unterstützt werden.

Nur zwei Jahre nach dem Aufstieg des IS wird so ein iranischer Großmachtstraum wahr. Iran ist militärisch, politisch und vom Westen geduldet, ja teilweise sogar ermächtigt, im Irak und in Syrien angekommen. Die heiligen schiitischen Stätten im Irak von Nadschaf bis Kerbala, die Millionen irankischen Schiiten, die Rache gegen den „Ungläubigen“ Saddam Hussein. Egal wie man es nennen mag, Einflussgebiet, Schutzmacht, leiser Anschluss...

Iran breitet sich im Irak aus und in Syrien haben die letzten Monate Dank der russischen Unterstützung auch sichtbare Erfolge für den alawitisch-schiitischen Waffenbruder Assad gebracht. Wöchentlich steckt der IS Rückschläge ein, im Irak, in Syrien. Was, wenn dieser bald unbedeutend wird und die schiitische islamische Revolution – natürlich parallel immer noch fleißig tätig in der „Atomforschung“ und Gemeinschaftprojekten mit Nordkorea – den schiitische Halbmond vom Iran, via Irak und Syrien bis zum Libanon gänzlich unter ihre Kontrolle bringt?

Blutet die Hisb’Allah nicht eher aus?
Viele winken ab: Die Hisb‘Allah blutet im Syrienkrieg bis heute beträchtlich und ist stark getroffen. Der Iran selbst scheint oft an der Grenze der Resignation und nahe dem Abzug aus Syrien. Und vielleicht gehen die Erfolgs- und Unterstützungswellen des schiitischen Bündnis unter Iran und Russland und des suniitischen Bündnis unter den Golftstaaten und dem Westen immer so weiter. Auf jeden Fall – so sollte man meinen – ist ein dritter Libanonkrieg das letzte, was Iran, Hisb‘Allah und Co. gerade brauchen oder gar im Kopf hätten.

„Irrtum!“, sagt Ronen Bergman, einer der renommiertesten israelischen Geheimdienst- und Militärjournalisten, in seinem Ynet-Artikel „Der neue Norden“. Ja, Hisb‘Allah steckt hart ein in Syrien, „aber trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – nehmen die Kriegsvorbereitungen Nasrallahs für den dritten Libanonkrieg nur zu.“

Damals, 2006, im zweiten Libanonkrieg, wurde Israel ziemlich eiskalt überrascht. Überrascht nicht nur von den militärischen und materiellen Fähigkeiten – die Israel doch in gewissem Maße bekannt waren –, sondern auch von der Motivation und Hemmungslosigkeit der Hisb‘Allah. „Warum sollte sie?“ „Es ist nicht in ihrem Interesse!“ „Warum?“

Israel war doch nur ein paar Jahre vorher aus dem Libanon mit dem Panzerrohr zwischen den Beinen abgezogen. Sie hatten doch alles, was sie wollten – oder nicht? Jahrzehnte brutaler Terror hatten sich gelohnt und jetzt sollten sie sich doch eigentlich in eine rein politisch-soziale Gruppe umformieren und Friede, Freude, Eierkuchen bereiten und sich an der Tagespolitik langweilen.

Viele Israelis bekannen 2006 zu verstehen, dass der antisemitische Vernichtungswahn mit Hauptquartier in Teheran nicht an Realkonflikten, Land und Friedensschlüssen interessiert ist, sondern einzig und allein an der Vernichtung des „zionistischen Gebildes“.
Und da geht man in Teheran langsam und mit viel Geduld vor.

Zu Beginn des zweiten Libanonkriegs vor zehn Jahren hatte die Hisb‘Allah etwa 15.000 Raketen zu ihrer Verfügung, wovon sie etwa 4.000 auf Israel – hauptsächlich im Norden – herabregnen ließ. Am Ende des Kriegs – trotz israelischer Beschüsse und Luftangriffe – blieben der Hisb‘Allah noch 7.000 Raketen.

Aber das ist Schnee von gestern. Kleinkram. Das war die Hisb‘Allah 2.0. Die Hisb'Allah 3.0 von heute hat nach offiziellen Einschätzungen des israelischen Militärs ca. 150.000 Raketen gegen Israel im Arsenal, davon tausende mit großer Reichweite, die ganz Israel – außer Eilat vielleicht – treffen können. Die Treffsicherheit und Sprengkraft ist wesentlich höher als damals. Die gefürchteten Fateh 110 bzw. M-600 genannten Raketen – iranische Produktionen und immer wieder auch von Hisb‘Allah in Syrien getestet – können 500 kg Sprengkörper per GPS sehr genau bis nach Zentralisrael befördern und sind durch die Technik des Festtreibstoffs in etwas über 15 Minuten abschussbereit. Vor allem der massive, gleichzeitige Beschuss mit diesen Albtraumraketen oder auch kleineren und kürzeren Varianten, könnten israelische Raketenabwehrsysteme überfordern und Israels Infrastruktur, Straßen, Flughäfen, aber auch Armeestützpunkte etc. weitgehend lahmlegen und es der Armee sehr schwer machen, schnell, effektiv, geordnet und in großem Stil zu reagieren. (…)

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