Die Labour Party unter Jeremy Corbyn kehrt jüdischen Wählern den Rücken auch im Hinblick auf die zahlreichen islamischen Stimmen

  

März 9, 2018 – 22 Adar 5778
Die europäische Sozialdemokratie wendet sich schleichend von den Juden ab

Von Hansjörg Müller (London)

Jeremy Corbyn, der Vorsitzende der britischen Labour-Partei, ist kein Freund Israels. Damit ist er in seiner Partei nicht allein: Gegner des jüdischen Staates gibt es auch und gerade unter Linken viele. Doch eines unterscheidet Corbyn von den meisten Israel-Hassern: Anders als diese legt er keinen Wert auf die Feststellung, er habe doch jüdische Freunde.
Letzten September, beim Labour-Parteitag in Brighton, hielt er eine Abschlussrede, in der kaum eine Minderheit von seiner Solidarität verschont blieb: Muslime, Schwarze, Asiaten, Lesben, Schwule und Transsexuelle – sie alle hätten bei Labour eine politische Heimat, erklärte er.

Nur die Juden erwähnte Corbyn nicht.

Das war umso verwunderlicher, als die großen Londoner Zeitungen vor und während des Parteitags ausführlich und erschöpfend darüber diskutierten, ob Labour ein Problem mit Antisemiten in den eigenen Reihen habe. Nur einen Tag vor Corbyns Ansprache hatte ein Redner vom selben Podium herab vom „verabscheuungswürdigen Staat Israel“ geredet; am gleichen Tag stellte eine Labour-Politikerin die Frage, ob es erlaubt sein solle, darüber zu debattieren, ob der Holocaust tatsächlich stattgefunden habe. Im Foyer verteilten pro-„palästinensische“ Aktivisten ein Flugblatt, auf dem der Nazi-Funktionär Reinhard Heydrich als Kronzeuge für die abstruse These herangezogen wurde, Adolf Hitler habe nie die Absicht gehabt, die Juden auszurotten.

Ungehörte jüdische Labour-Mitglieder
Auch jüdische Labour-Mitglieder verteilten in Brighton Flugblätter. Sie stellten die geradezu rührend naive Forderung, Jeremy Corbyn müsse bei der Bekämpfung des Antisemitismus unterstützt werden. Doch der ergriff nicht die Hand, die ihm dargeboten wurde. Wäre es ihm ein Anliegen gewesen, seinen jüdischen Parteikollegen zu versichern, dass auch sie bei Labour weiterhin willkommen sind, er hätte es in seiner Abschlussrede tun können. Doch er tat es nicht. Auf die „Unterdrückung des palästinensischen Volkes“ hinzuweisen versäumte er hingegen nicht – und der Jubel der Delegierten war an dieser Stelle besonders laut. Es schien, als wären Labours jüdische Mitglieder schon gar nicht mehr da.

Warum aber verleugnet Corbyn seine jüdischen Parteikollegen? Womöglich steckt politisches Kalkül dahinter: Knapp 300.000 Juden leben in Großbritannien, aber drei Millionen Muslime. Wo das größere Wählerpotenzial liegt, ist klar.

Welche paternalistische Annahme dieser Strategie zugrunde liegt, ist Corbyn wahrscheinlich nicht einmal bewusst: Muslime behandelt er wie trotzige Kinder, von denen nicht eingefordert werden darf, den Nahost-Konflikt mit so viel Nüchternheit und Distanz zu betrachten, dass ihnen nicht bereits die bloße Anwesenheit von Juden als Provokation erscheint.

Wie die meisten sozialdemokratischen Parteien Europas war Labour traditionell immer auch eine jüdische Partei: Die Emanzipation von Juden, Arbeitern und Frauen ging seit dem 19. Jahrhundert oft Hand in Hand.

Das ist nun vorbei: Labour ist keine aufklärerische Kraft mehr.

Großbritanniens jüdische Gemeinschaft und die Arbeiterpartei haben damit das Ende eines gemeinsamen Weges erreicht.

(Zuerst erschienen auf „Publico“ von Alexander Wendt)

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