Von Monty Aviel Ott  

Mai 11, 2016 – 3 Iyyar 5776
Der Wert der Befreiung

Es ist nicht lange her, da haben wir uns eine Woche lang vom „Brot der Armut“ ernährt. Das trockene Gebäck braucht so einigen Erfindungsreichtum, um wirklich genießbar zu werden. Doch verbergen die staubtrockenen Mazzeblättchen, wie auch andere symbolische Handlungen in jüdischen Ritualen, eine tiefgründige Bedeutung: „Wir waren Sklaven in Ägypten“. Pessach ist das Fest der Befreiung an welchem wir uns zweierlei bewusst machen sollten: einerseits, welche Freiheit wir heute genießen und andererseits, von was wir uns heute noch versklaven lassen.

Doch eine knappe Woche nach dem Ende von Pessach, liegt ein säkularer Tag der Befreiung vor uns. Und mit dem 71. Jahrestag dieser Befreiung wird es mal wieder Zeit für eine Bestandsaufnahme. Auch an diesem Tag sind wir von einem Übel befreit worden. Ein Übel, das keinen Vergleich kennt. Ein Unheil, das in seiner Monstrosität singulär in der Geschichte des Menschen ist. Der 8. (bzw. im russischsprachigen Raum der 9.) Mai markiert das Datum der Erlösung vom Nationalsozialismus, der Erlösung von den Mordfabriken, die unter anderem die Namen Auschwitz, Sobibor und Treblinka trugen.

Doch was meint eigentlich Erlösung bzw. Befreiung in diesem Zusammenhang? Wer ist befreit worden vom Nationalsozialismus? Und welche Lehren wurden daraus gezogen? Der Frankfurter Sozialpsychologe und Mitbegründer der sogenannten „Frankfurter Schule“ Theodor W. Adorno konstatierte in seinem Essay „Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit“: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung.“ Adornos Forderung aus den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts hätte zur Leitmaxime der jüngeren bundesrepublikanischen Gesellschaft werden sollen. Doch weder der Fakt des industriellen Mordes, noch sein Ausmaß besiegelten das Ende des Antisemitismus. Es wurde fast das komplette europäische Judentum ausgerottet und dennoch scheint die Vergangenheit in Deutschland „höchst lebendig“. Adorno stellte sich die Frage, „ob bloß als Gespenst dessen, was so monströs war, daß es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam“. Wie lebendig der Antisemitismus weiterhin ist, wird einem bewusst, wenn man die Anschriften an den Zentralrat der Juden in Deutschland und die Botschaft des Staates Israel liest, wie Monika Schwarz-Friesel es auf wissenschaftlicher Basis getan hat.

Auch in Teilen der deutschen Gesellschaft leben antisemitische Vernichtungswünsche fort. Diese äußerten sich sehr offen während militärischer Konflikte im Nahen Osten oder während der Beschneidungsdebatte im Jahr 2012. Zuletzt zeigte sich die Fratze des antisemitischen Hasses auf deutschen Straßen während der Auseinandersetzung zwischen den israelischen Verteidigungskräften und der Hamas im Jahr 2014. Hier gab es die Querfront zwischen Kräften, die im politischen Spektrum links und rechts angesiedelt werden, jedoch mit unterschiedlichem Wortlaut, aber denselben Stereotypen gegen den Judenstaat mobilmachten.

„Jude, Jude, feiges Schwein, komm heraus und kämpf allein“, hätte auch eine „Stürmer“-Überschrift lauten können. So manch einer, der gerade diese Zeilen liest, wird wahrscheinlich die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, oder er wird die Seite mit meinen Worten herausreißen und wegwerfen. Alles Paranoia, alles übertrieben! Doch frage ich mich, wie übertrieben kann die Angst vor den antisemitischen Vernichtungswünschen sein, hinsichtlich der Mordanschläge, die in den letzten 24 Monaten auf Juden in Europa abzielten? Wer hier von Übertreibung redet, der vergisst, dass jüdische Gemeinden Hochsicherheitstrakten gleichen. In meiner Gemeinde werden wir beim Beten durch kugelsicheres Glas geschützt. Übertrieben ist nicht das jüdische Sicherheitsbedürfnis, sondern der Hass der Antisemiten. Und das auch in Deutschland nach 1945.

Trotz des offensiven Auftritts antisemitischer Auswüchse im Jahr 2014, muss konstatiert werden, dass die bekennenden Antisemiten weitgehend aus der Öffentlichkeit verschwunden sind. Da, wo es vor 1945 noch Antisemitenvereine gegeben hatte, wird der plumpe Neonazi-Antisemitismus weitgehend, das heißt in immer wiederkehrenden Beschwörungsformeln, geächtet. Aber wie Jean Amery bereits 1969 feststellte, „der Antisemitismus, enthalten im Anti-Israelismus oder Anti-Zionismus wie das Gewitter in der Wolke, ist wiederum ehrbar.“ Dabei spielt Amery darauf an, dass es heute als politisch korrekt gilt, wo antisemitische Ressentiments qua Umwegkommunikation als „Kritik am Kapitalismus“ oder „freundschaftlicher Ratschlag an Israel“ geäußert werden. (…)

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