Die beeindruckende Rede von Rabbi Lord Jonathan Sacks  

November 3, 2016 – 2 Heshvan 5777
Das mutierende Virus: Antisemitismus verstehen

Von Redaktion Audiatur (Zürich)

Der folgende Text ist eine Mitschrift der Rede von Rabbi Lord Jonathan Sacks bei der Konferenz „The Future of the Jewish Communities in Europe“ (Konferenz zur Zukunft der jüdischen Gemeinden in Europa), die am 27. September 2016 im Europäischen Parlament in Brüssel stattfand:

„Der Hass, der mit den Juden beginnt, hört niemals bei den Juden auf. Ich möchte, dass wir das heute verstehen. Es waren nicht nur die Juden, die unter Hitler litten. Es waren nicht nur die Juden, die unter Stalin litten. Es sind nicht nur die Juden, die unter dem IS, Al-Qaida oder dem Islamischen Dschihad leiden. Wir machen einen großen Fehler, wenn wir denken, Antisemitismus sei nur eine Gefahr für Juden. In erster Linie ist er eine Gefahr für Europa und die Freiheiten, die wir im Laufe der letzten Jahrhunderte errungen haben.

Beim Antisemitismus geht es nicht um Juden, sondern um Antisemiten. Es geht um Menschen, die keine Verantwortung für die eigenen Fehler übernehmen wollen und daher anderen die Schuld geben. Wenn man während der Zeit der Kreuzzüge Christ war oder nach dem Ersten Weltkrieg Deutscher und man sah, dass die Welt sich nicht so entwickelt hatte, wie man es sich vorgestellt hatte, gab man erfahrungsgemäß den Juden die Schuld. Und das ist es, was auch heute geschieht. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie gefährlich das ist. Nicht nur für Juden, sondern für alle, die Freiheit, Mitgefühl und Menschlichkeit schätzen.

Antisemitismus ist in einer Kultur das erste Symptom einer Krankheit, das erste Warnzeichen für einen kollektiven Zusammenbruch. Wenn Europa zulässt, dass Antisemitismus gedeiht, ist das der Anfang vom Ende Europas. Ich möchte in diesem kurzen Beitrag das vage und mehrdeutige Phänomen Antisemitismus analysieren, denn es erfordert Klarheit und Verstand, zu wissen, was Antisemitismus ist, warum er auftritt und warum Antisemiten davon überzeugt sind, nicht antisemitisch zu sein.

Zuerst möchte ich den Begriff Antisemitismus definieren. Juden nicht zu mögen ist kein Antisemitismus. Wir alle kennen Menschen, dir wir nicht mögen. Das ist normal, es ist menschlich und nicht gefährlich. Israel zu kritisieren ist kein Antisemitismus. Ich sprach letztens mit einigen Schulkindern und sie fragten mich: „Ist es antisemitisch, Israel zu kritisieren?“ Ich sagte nein und erklärte ihnen den Unterschied. Ich fragte sie: „Glaubt ihr, ihr habt das Recht die britische Regierung zu kritisieren?“ Alle hoben die Hand. Dann fragte ich: „Wer von euch glaubt, Großbritannien habe kein Existenzrecht?“ Niemand hob die Hand. „Jetzt kennt ihr den Unterschied“, sagte ich, und alle verstanden.

Antisemitismus bedeutet, den Juden das Recht abzusprechen, gemeinsam als Juden zu existieren, mit denselben Rechten wie jeder andere auch. Er nimmt zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Formen an. Im Mittelalter wurden die Juden wegen ihrer Religion gehasst. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert wurden sie aufgrund ihrer Rasse gehasst. Heute hasst man sie wegen ihrer Nation, dem Staat Israel. Antisemitismus tritt in verschiedenen Formen auf, bedeutet aber immer dasselbe: die Ansicht, dass Juden nicht das Recht haben, als freie und gleichwertige Menschen zu existieren.

Wenn es etwas gibt, das ich und meine Zeitgenossen nicht erwartet hätten, dann, dass der Antisemitismus nach Europa zurückkehrt, während die Erinnerung an den Holocaust noch präsent ist. Wir rechneten nicht damit, weil Europa gemeinsam die größten jemals dagewesenen Anstrengungen unternahm, damit der Virus des Antisemitismus den Staatskörper niemals wieder befallen würde. Es fand eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema statt – antirassistische Gesetze wurden verabschiedet, an Schulen wurde Wissen über den Holocaust vermittelt und es gab einen interreligiösen Dialog. Doch trotz alledem ist der Antisemitismus zurückgekehrt.

Am 27. Januar 2000 trafen sich Vertreter von 46 Regierungen aus der ganzen Welt in Stockholm, um eine gemeinsame Erklärung zur Erinnerung an den Holocaust und den andauernden Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Vorurteile abzugeben. Dann kam 9/11 und innerhalb weniger Tage überschwemmten Verschwörungstheorien das Internet, in denen behauptet wurde, dies sei das Werk Israels und seines Geheimdienstes Mossad. Im April 2002 war ich während des Pessach-Festes zusammen mit einem jüdischen Pärchen aus Paris in Florenz, als diese einen Anruf von ihrem Sohn erhielten, der sagte: „Mama, Papa, es ist Zeit für uns, Frankreich zu verlassen. Wir sind hier nicht mehr sicher.“

Im Mai 2007 sagte ich bei einem privaten Treffen hier in Brüssel zu den drei damaligen Führern Europas, Angela Merkel, Vorsitzende des Europäischen Rates, Jose Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission, und Hans-Gert Pöttering, Präsident des Europäischen Parlaments, dass die Juden in Europa sich zu fragen begannen, ob es in Europa eine Zukunft für sie gebe.

Das war vor über neun Jahren. Seitdem ist es noch schlimmer geworden. Bereits im Jahr 2013, bevor es einige der schlimmsten Vorfälle gab, stellte die Agentur der Europäischen Union für Grundrechte fest, dass fast ein Drittel aller europäischen Juden aufgrund von Antisemitismus eine Auswanderung in Erwägung zogen. In Frankreich lag diese Zahl bei 46 Prozent und in Ungarn bei 48 Prozent.

Lassen Sie mich Ihnen eine Frage stellen. Egal ob Sie Jude, Christ oder Moslem sind: Würden Sie in einem Land leben wollen, in dem Sie beim Beten von bewaffneten Polizisten beschützt werden müssen? In dem Ihre Kinder in der Schule von bewaffnetem Sicherheitspersonal bewacht werden müssen? In dem Sie das Risiko eingehen, auf offener Straße beschimpft oder attackiert zu werden, wenn Sie ein Zeichen Ihres Glaubens tragen? In dem Ihre Kinder an der Universität beleidigt und eingeschüchtert werden, aufgrund von Dingen, die in einem anderen Teil der Welt passieren? In dem Ihre Kinder angebrüllt und zum Schweigen gebracht werden, wenn sie ihre Sicht der Dinge darlegen?

Das passiert Juden in ganz Europa. In jedem einzelnen Land Europas, ohne Ausnahme, haben Juden Angst um die Zukunft ihrer Kinder. Wenn das so weitergeht, werden die Juden Europa weiter verlassen, bis Europa – abgesehen von den schwachen und älteren Menschen – schließlich judenrein sein wird.

Wie konnte das passieren? Genauso, wie Viren das menschliche Immunsystem besiegen: durch Mutation. Der neue Antisemitismus unterscheidet sich auf drei Arten vom früheren. Einen Unterschied habe ich bereits erwähnt. Früher wurden die Juden aufgrund ihrer Religion gehasst, dann aufgrund ihrer Rasse und nun wegen ihres Nationalstaates. Der zweite Unterschied ist, dass das Epizentrum des alten Antisemitismus in Europa lag. Heute befindet es sich im Nahen Osten und wird von den neuen elektronischen Medien in der ganzen Welt verbreitet.

Der dritte Unterschied ist besonders besorgniserregend. Ich werde Ihnen erklären, warum. Es ist einfach, jemanden zu hassen, aber schwierig, diesen Hass öffentlich zu rechtfertigen. Wenn Menschen im Laufe der Geschichte ihren Antisemitismus rechtfertigen wollten, taten sie das, indem sie Rückhalt bei der obersten Autoritätsquelle ihrer Kultur suchten. Im Mittelalter war das die Religion. Es gab also religiösen Antijudaismus. Im Zeitalter nach der Aufklärung war es in Europa die Wissenschaft. Die tragenden Säulen waren die Naziideologie, Sozialdarwinismus und die wissenschaftliche Untersuchung von Rassen. Heute sind Menschenrechte die oberste Autoritätsquelle der Welt. Daher wird Israel – die einzige uneingeschränkt funktionierende Demokratie mit einer freien Presse und unabhängigen Justiz im Nahen Osten – regelmäßig einer der fünf Todsünden des Menschenrechts bezichtigt: Rassismus, Apartheid, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ethnische Säuberung und versuchter Völkermord.

Der neue Antisemitismus ist mutiert, sodass jeder behaupten kann, kein Antisemit zu sein. „Ich bin schließlich kein Rassist“, sagen sie. „Ich habe kein Problem mit Juden oder dem Judentum. Ich habe lediglich ein Problem mit dem Staat Israel.“ Doch während es auf der Welt 56 muslimische und 103 christliche Nationen gibt, gibt es nur einen jüdischen Staat, Israel, der lediglich 0,25 Prozent der Landmasse des Nahen Ostens einnimmt. Israel ist der einzige der 193 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, dessen Existenzrecht regelmäßig in Frage gestellt wird und den ein Land, der Iran, so wie viele andere Gruppen zerstört sehen möchte. (…)

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