Von Isabelle Rondinone
Wenn Chassidim beten, sitzen sie nicht still. Sie singen und tanzen, mindestens aber schunkeln und wiegen sie sich zu religiösen Liedern und Melodien. Zum einen sind Tanz und Gesang eine Art, den Eifer und die Freude zum Ausdruck bringen, die Wünsche Gottes zu erfüllen zu können.
Denn ein wichtiges Prinzip des jüdischen Glaubens ist es, Gott nicht nur zu dienen, sondern ihm mit Freude zu dienen. Zum anderen stellen Tanz und Gesang für Chassidim überhaupt einen wesentlichen Weg dar, sich Gott anzunähern. Aktivsein und eigenverantwortliches Handeln sollen die Brücke schlagen zwischen Körper und Geist, Mensch und Gott. Frommes Denken und Handeln verbinden sich im Chassidismus zu einer vollkommenen Einheit, durch die der Mensch befähigt ist, hinter die Fassade alles Irdischen zu blicken und die göttliche Wurzel in allem zu erkennen. Dieser Akt des höchsten Erkennens wird als Jichudim bezeichnet.
Jichudim
Das Streben nach Jichudim aber realisiert sich nach den Lehren des Chassidismus nicht ausschließlich in den spirituell-religiösen Ritualen, Geboten und Gebeten, sondern in jeder beliebigen Alltagshandlung. Damit ermöglicht der Chassidismus jedem einzelnen Gläubigen, eine enge Verbindung mit Gott einzugehen, eine Bindung, die in anderen jüdischen Glaubensströmungen nur einer Elitegruppe, nämlich den Rabbinern, vorbehalten ist.
Die Ursprünge des Chassidismus in der Ukraine
Es ist insbesondere dieser Grundgedanke, der uns unmittelbar zu den Anfängen des osteuropäischen Chassidismus in die Mitte des 18. Jahrhunderts zurückkatapultiert. Wir befinden uns in der historischen Region Podolien, heute Ukraine, in der Rabbi Israel ben Elieser (1700 bis 1760), genannt Ba‘al Schem Tov (Besitzer des guten Namens), abgekürzt Bescht, gewirkt hat. Er gilt bei den Chassidim, wenn auch nicht unumstritten, als der Begründer des Chassidismus. Schriftliche Zeugnisse, die auf Biografie und Lehre von Israel ben Elieser schließen lassen, gibt es wenige, darunter lediglich vier Quellen, die von ihm selbst stammen. Verhältnismäßig gut belegt ist, dass Israel ben Elieser ein anerkannter und charismatischer Gelehrter war, der einen elitären Gelehrtenkreis von 20 Kabbalisten und Talmudisten um sich vereinte. Seine letzte Wirkungsstätte ist die Stadt Międzybóż.
Ablehnung der Askese
Ba‘al Schem Tov war theoretischer und praktischer Kabbalist sowie Mystiker. Zu seiner Zeit war er dafür bekannt, dass er die freudlose Askese ablehnte und stattdessen den hohen Wert des menschlichen Denkens und Handelns, in Freude und in Ausrichtung auf Gott, propagierte. Im Zentrum seiner Lehre stand die Schöpfungskraft des Wortes, dessen Ursprung im (hebräischen) Alphabet liegt. Die Lehre besagt, dass mit jedem Buchstaben die Geistigkeit Gottes materialisiert, gleichzeitig jedoch verhüllt und im Verborgenen gehalten wird. Das kosmologische Konzept von Ba‘al Schem Tov beinhaltet außerdem, dass alle weltlichen Dinge vom göttlichem Text durchdrungen sind. Die Immanenz Gottes in der Welt bringt das geflügelte Wort der Kabbalisten und frühen Chassidim „Kein Ort ist leer von Ihm“ zum Ausdruck. Dem frommen Juden wird damit die Aufgabe zuteil, die göttliche Wurzel, die sich hinter den Buchstaben des göttlichen Schöpferwortes verbirgt, zutage zu fördern und sich ihrer anzunähern. Das Denken, aber vor allem das Handeln soll auf den Prozess der Enthüllung der göttlichen Wurzel ausgerichtet werden. Es geht um spirituelle Aktivität, dem Gottesdienst in Körperlichkeit, der sich in jeder physischen Handlung realisiert – vorausgesetzt, sie ist im Denken auf die Vereinigung mit Gott ausgerichtet.
Der Zaddik
Ebenfalls charakteristisch für den Chassidismus ist der Zaddik („Gerechter“ von hebräisch zedek = „Gerechtigkeit“), der chassidische Rabbi. In der Kabbala steht er für Jessod, die neunte Sefira, die sich als zentraler Knotenpunkt im Lebensbaum zwischen Malchuth/Schechina und den anderen Sephiroth befindet. Dem Zaddik kommt demnach eine Mittlerfunktion zwischen Himmel und Erde zu: Er fungiert als Kanal, der den Segen Gottes an die Menschen leitet. Als solcher bildet er den Mittelpunkt einer jeder chassidischen Gemeinde, der den Chassidim als Beichtvater, Lehrer und Unterstützer dient. Es gilt: Je enger die Beziehung der Chassidim zu ihrem Zaddik ist, desto enger ist auch ihre Beziehung zu Gott.
Ausgehend von seiner Lehre gründeten Ba‘al Schem Tov und seine Nachfolger, wie Jakob Josef von Polonoje (etwa 1741 bis 1782), die Erste Generation des Chassidismus, der sich von Polen-Litauen aus rasch in ganz Osteuropa verbreitete. Und auch heute, viele Generationen später, gehört der osteuropäische Chassidismus zu den einflussreichsten jüdischen Strömungen überhaupt. Die Gründe für die seit Jahrhunderten anhaltende hohe Beliebtheit sind sowohl Kritikern als auch Wissenschaftlern ein Rätsel. Einige sahen den Chassidismus als Gegenentwurf zur Haskala-Bewegung, der jüdischen Aufklärung, die sich seit der 1770er und 1780er Jahren in Osteuropa verbreitete. So galt der Chassidismus für jüdische Intellektuelle jener Zeit als Rückschritt zum Obskurantismus, der vernünftigem Denken entgegensteht. Andere wiederum sahen in der sozialen Botschaft des Chassidismus den Grund für seine Popularität. Simon Dubnow (1860 bis 1941) verortet in seinem Buch Geschichte des Chassidismus die dynamische Entwicklung der Bewegung unmittelbar in die Zeit nach dem Chmielnicki-Massaker 1648/49, dem ein großer Teil der jüdischen Bevölkerung zum Opfer fiel und ein Niedergang vieler jüdischer Gemeinden in der polnischen Adelsrepublik nach sich zog. (…)
Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.
Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.