August 7, 2014 – 11 Av 5774
Zerstörung und Erlösung

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Der 9. Aw ist eine Herausforderung für jede neue Generation 

Auch in diesem Jahr, wie in jedem, werden Juden an dem Trauertag Tischa be Aw zusammenkommen, um auf dem Boden sitzend bei Kerzenlicht zu trauern, zu beten und um sich zu erinnern, was dem Volk Israel wiederfuhr, als die beiden Tempel zerstört wurden. Sowohl der erste Tempel, der 586 vor der Zeitrechnung durch die Babylonier, als auch der zweite Tempel, der 70 nach der Zeitrechnung, wurden an Tischa be Aw (9. Tag im Monat Aw) zerstört.
Jedes historische Ereignis, an das wir uns durch Feier- oder Gedenktag erinnern, muss in erster Linie danach hinterfragt werden, was wir daraus für unsere Zukunft lernen können.
Im Talmud steht geschrieben: « Kol Dor sche lo niwna Bejt ha Migdasch be Jamaw Ke`ilu nechraw be jamaw − Jede Generation, die den Tempel in ihrer Generation nicht aufbaut, ist so, als wäre der Tempel in ihrer Generation zerstört worden.»

Dieser Satz ist ein Beweis für den Missstand, der damals existierte, denn es fehlte an Moral und Ethik. Solange der Tempel deshalb nicht wieder erbaut werden kann, ist jede Generation mit der Generation, die zu Zeiten der Tempelzerstörung lebte, gleichzusetzen.

In der historischen Forschung betrachtet man die Vergangenheit oft unter wirtschaftlichen, politischen, militärischen und anderen Aspekten, veranschaulicht mit Hilfe von Statistiken. Im Talmud, der mündlichen Thora und in den Propheten hingegen werden andere Maßstäbe gesetzt, man sucht immer nach spirituellen Gründen, die mit moralischen und ethischen Agitationen der Menschen im Zusammen- hang stehen.

In Jesaja, 1. Kapitel, Vers 1-4 lesen wir: «Weissagung Jeschajahus, Sohnes des Amoz, die er geschaut über Jehuda und Jeruschalajim in den Tagen Ussijahus, Jotams, Achas und Jechisskijahus, der Könige von Jehuda. Höret, Ihr Himmel, vernimm Erde, denn der Ewige redet! Kinder habe ich erzogen und heranwachsen lassen, doch sie sind von mir abgefallen! Es kennt der Ochse seinen Eigner, der Esel die Krippe seines Herren, Jisrael erkennt nicht, mein Volk denkt nicht nach! Weh, sündhafte Nation, Volk mit Schuld beladen, Nachkommenschaft von Übeltätern, entartete Kinder! Sie haben verlassen den Ewigen, erzürnt den Heiligen Jisraels, sind rücklings gewichen!»
Betrachten wir nur diesen Abschnitt, erfahren wir dass sich das Volk Israel von G ́tt abwandte , ihn gänzlich verließ, wie Kinder, die ihre Eltern verlassen, den Kontakt abbrechen und einen unendlichen Schmerz hinterlassen.

Der Tempel war zu damaliger Zeit das Zentrum des Glaubens, er war ein Ort der Verknüpfung zwischen G ́tt und dem Volk, über Opfergaben näherten sie sich dem Ewigen.
Liest man nur diese vier Verse, so könnte man davon ausgehen, dass der Tempel gar nicht mehr seinen Zweck erfüllte, dass sich nicht gebührlich um ihn gekümmert wurde. In den Versen 11-12 lesen wir weiter die Worte des Propheten, der im Namen Gottes spricht: «Was soll mir die Menge eurer Opfer? Spricht der Ewige. Ich bin satt der Ganzopfer, der Widder und des Fettes und der Masttiere, das Blut der Stiere, der Lämmer und der Böcke begehre ich nicht. Kommt Ihr, um zu erscheinen vor meinem Angesicht, wer hat solches von euch verlangt, meine Höfe zu zertreten?» Hier erfahren wir, dass die tägliche Tempelarbeit verrichtet wurde, sogar sehr rege. Es wurden Opfer erbracht, es wurde gebetet, es war eine Wallfahrtsstätte, man versammelte sich an Festen und Schabbatot am Tempel.



Rabbiner Yaacov Zinvirt, in Jerusalem geboren, ist ein direkter Nachfahre von Rabbiner Elimelech aus Lischansk. Er amtierte als Rabbiner in Berlin, Mainz-Worms und in der Gemeinde Duisburg-Mülheim-Oberhausen, übte außerdem Lehraufträge an den Universitäten Potsdam und Essen aus. Derzeit ist er als Religionslehrer in Berlin tätig.
Weitere Informationen: www.lehrhaus-net.de

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