«Studieren Sie den Talmud?», fragte mich ein sportlich gekleideter
Frührentner bereits wenige Minuten, nachdem er
sich auf dem bequemen ICE-Sitz gemütlich gemacht hat. Aus
dem Augenwinkel sah ich die äußerst gepflegte ältere Dame
neben mir nun erwartungsvoll lächeln. Ihre neugierigen Blicke
fühlte ich bereits seit dem Beginn unserer Fahrt in Berlin
vor zwei Stunden. Okay, dachte ich mir, ich muss wohl
erklären, dass es Psalmen sind, die ich lese, und warum ich
sie bereits seit zwei Stunden lese und wohl noch zwei weitere
Stunden lesen werde. Nur, wie kann ich es kurz und doch verständlich
tun?
Es war gewissermaßen auch eine ganz neue Erfahrung für
mich selbst, so viele Tehillim zu lesen: Das ganze Erste Buch an
nur einem Tag. Ich war schon recht zufrieden mit mir, dass ich
ganze sieben Tehillim täglich lese, aber einundvierzig und dazu
eben noch ganz unbekannte… Dazu habe ich mich ausschließlich
aus einem ganz besonderen, leider ganz und gar nicht erfreulichen
Grund verpflichtet. An diesen verhängnisvollen
Juni-Tagen nahmen sich jüdische Frauen auf der ganzen Welt
viele Stunden höchst wertvoller Zeit, um eines der fünf Bücher
der Psalmen an einem Tag zu lesen. Nicht nur aus Israel und
Amerika, auch aus allen europäischen Ländern, aus Australien,
aus Südamerika und Südafrika entflogen die uralten heiligen
Worte voller Sorge und Schmerz und Hoffnung. Zusammen
mit Tränen und drei Namen: Jakob Naftali ben Rachel Dwora,
Gilad Michael ben Bat Galim und Eyal ben Iris Tshura.
Aber was sind Tehillim wirklich? Wer hat sie geschrieben
und wann? Warum besitzen sie eine besondere Kraft, und wie
hängen sie mit unserem inneren Leben zusammen? Und vor
allem: was haben sie mit der niederträchtigen Entführung der
drei israelischen Teenager zu tun?
Sefer Tehillim, das Buch der Psalmen, ist ein ganz besonderes
Buch aus dem TaNaCh, genauer gesagt, aus seinem
dritten Teil: Ketuvim. Es enthält 150 einzelne, unterschiedlich
lange Lieder, die mehrere Tausende von Jahren alt sind
und dennoch das innere Leben eines Menschen mit all seinen
Freuden und Leiden erstaunlich zeitlos widerspiegeln. König
David gilt als Verfasser von Sefer Tehillim. Sein Leben war
so außergewöhnlich wie kein anderes in der Menschheitsgeschichte.
Während seiner Laufbahn vom Schafshirten
zum König erlebte David jede Art von Yisurim – Lebensherausforderungen,
die nur existieren können: neben Liebe,
Freundschaft und Treue kannte er Hass, Feindseligkeit und
Verrat nur zu gut. Sein langes Leben ist gekennzeichnet durch
Erfolge und Fehlschläge, Freude und Leid jeder Art. Unsere
Weisen sagen, Davids Augen hatten alle Farben, da er jeden
möglichen Schicksalsschlag erlitten hat, der uns als Menschen
treffen kann.
Die Tatsache, dass der Charakter von König David in den
Samuel-Büchern so ungewöhnlich vielseitig und menschlich
dargestellt wird, bleibt absolut beispiellos für alle Königserzählungen
des Altertums. Wir lesen gleichermaßen viel über
innere Stärke und Streben nach Güte und Gerechtigkeit, so
wie über Schattenseiten eines großen Helden, wie Zweifeln,
Zorn, Begehren und schwere Schuldgefühle.

Von Julia KONNIK

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