Juli 6, 2018 – 23 Tammuz 5778
Kein auserzählter Schriftsteller

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Der jüdische Autor Walter Kaufmann erinnert sich an Menschen, die er in 90 Jahren traf  

Von Dr. Ludger Joseph Heid

Walter Kaufmann, geboren 1924, ist ein deutsch-australischer Schriftsteller, der in Berlin lebt, und auch mit 94 Jahren die Feder noch nicht aus der Hand gelegt hat. Davon zeugt sein jüngstes Buch, in dem er Menschen porträtiert, denen er während langer neun Jahrzehnte begegnete – bekannte und weniger bekannte, sympathische und verachtenswerte, hilfsbereite und Hilfe Versagende, Männer und Frauen, Deutsche aus Ost und West, Engländer und Australier und solche aus anderen Ländern und Kontinenten.

Auch einfache Menschen, „kleine Leute“, die ihm etwas sagten. Da sind der Sportlehrer, der ihn 1937 gegen einen HJ-Führer verteidigte; der brutale britische Feldwebel, „The Lionhunter“, der den jungen 16-jährigen Walter Kaufmann auf das Deportationsschiff „Dunera“ prügelte; die australische Schauspielerin, in die er sich verliebt hatte; eine russisch-jüdische Dolmetscherin, der er in politischer Notlage half; der Schiffsingenieur, dem er in Havanna amouröse Schützenhilfe leistete; den Vertreter von Do-it-yourself-Büchern, den er bei dessen Jobausübung durch New Yorks Schwarzenviertel Harlem begleitete oder der Anwalt Otto Schily, der sich vergeblich um das Elternhaus bemühte, das Nazi-Profiteure an sich gebracht hatten, nicht zuletzt seine Eltern und all die anderen.

Insgesamt 70 Skizzen, Episoden, in denen Walter Kaufmann wie durch ein Brennglas auf Menschen blickt, die ihn geprägt haben, Porträts in dichter, empathischer Sprache gezeichnet. Sie seien ihm vor sein „inneres Auge, immer des Nachts und nur in Einsamkeit“ getreten. Auch wenn sie ihm nicht regelmäßig erschienen, immer dann, wann und wie sie es wollten, waren sie ihm allesamt so präsent, dass er beim Schreiben nur eine zeitliche Reihenfolge herzustellen hatte. Über diese Menschen, die ihn nicht losließen, wollte er ein Buch schreiben. Ein Buch, in dem sie alle vereint sein würden. Diesen Wunsch hat er sich mit dem vorliegenden Buch erfüllt.

Zahlreiche Literaturpreise
Er hat wer weiß wie viele Bücher veröffentlicht, ist mit zahlreichen Literatur-Preisen ausgezeichnet worden – unter denen nicht zuletzt der Heinrich-Mann- und der Theodor-Fontane-Preis (beide 1967 verliehen) herausragen. In der Laudatio des ihm im Jahre 1993 zugesprochen „Literaturpreis Ruhrgebiet“ heißt es: „Walter Kaufmann ist ein Schriftsteller von internationalem Rang [...], alles Regionale (erscheint) in einem weltbürgerlichen Horizont“. Sein internationaler Horizont rührt ganz offensichtlich aus seinem Lebensschicksal und durch die „innere Umpolung“ der Fluchterfahrung in Reiselust. In seinem autobiographisch eingefärbten Buch „Schade, dass du Jude bist“ blickt er noch einmal auf sein abenteuerliches Leben zurück.

Sein neun Jahrzehnte reiches Leben ist gekennzeichnet durch die Tyrannei des 20. Jahrhunderts, ein Jahrhundert, das es nicht immer gut mit ihm meinte und der dennoch zufrieden auf das Geleistete zurückblicken kann. Walter Kaufmann ist das Kind einer jungen Ostjüdin aus dem Berliner Scheunenviertel, die nicht in der Lage war, ihren Sohn zu versorgen und ihn zur Adoption freigab. So erhält das Kind ein Zuhause, kommt in eine gutbürgerliche, vornehme Familie. In Duisburg wuchs er als Adoptivsohn von Sally und Johanna Kaufmann auf. Dr. Sally Kaufmann war ein renommierter Anwalt und Vorsteher der jüdischen Gemeinde in Duisburg, dem es gezwungenermaßen zufiel, die letzten Juden seiner Heimatstadt „auf Transport“ zu bringen. Er erlebte in seiner Jugend alle möglichen Diskriminierungen, die ihren Höhepunkt im Novemberpogrom 1938 erreichten. Während des Novemberpogroms 1938 wurde das Elterhaus verwüstet, der Vater als „Schutzhäftling“ nach Dachau verschleppt.

Mit dem Kindertransport nach England
Als 15-jähriger kommt er an seinem 15. Geburtstag am 19. Januar 1938 mit einem Kindertransport nach England und wird im Mai 1940 als „feindlicher Ausländer“ interniert und nach Australien deportiert. Nach seiner Entlassung aus englischer Gefangenschaft schlug er sich mit allen möglichen Gelegenheitsarbeiten durch und begann zu schreiben.
Als Schriftsteller hat er die antijüdischen Maßnahmen immer wieder kaleidoskopartig literarisch verarbeitet. Seine Wege kreuzten sich mit vielen interessanten Menschen, die sich ihm im Guten wie im weniger Guten eingeprägt haben. An diese sich im hohen Alter zu erinnern und sie zu porträtieren, war ihm ein Anliegen. So gesehen hat auch sein aktuelles Buch autobiographische Züge. Er versteht es meisterhaft zu pointieren.

Kaufmann schreibt in der Tradition der anglo-amerikanischen Short Stories, die einen bedeutenden Teil seines Werkes ausmachen. Der Stoff seines letzten Buches sind die Begegnungen aus seinem bewegten Leben in Europa und Übersee. Die einfachen Menschen, denen er – zur See und zu Lande – begegnet, ihre sozialen Nöte sind sein Sujet. Sie führen von seiner Heimatstadt Duisburg weit in die Welt des vergangenen Jahrhunderts und immer wieder zurück in die Gegenwart. Duisburg war der Mittelpunkt seines jungen Lebens und ist die Stadt geblieben, die für ihn – neben Sydney und Berlin, wo er lebt – die größte Bedeutung hat.

Ihn einen „Globetrotter“ zu nennen, würde ihm, weil viel zu oberflächlich, nicht gerecht. Vergleichen mag man ihn mit Jack London oder Egon Erwin Kisch, den „rasenden“ Reporter, der, wie er, die Kontinente bereist und beschrieben hat. Auf Walter Kaufmann lässt sich durchaus das von Thomas Mann häufig angeführte Wort von der „Weltläufigkeit“ anwenden. Dabei war Walter Kaufmann gewiss keiner, der auf Abenteuer aus war – das Schicksal hat ihn immer wieder aufs Neue vor Herausforderungen gestellt. Er hat in seinem langen Leben viel von der Welt gesehen, hat beeindruckende Menschen getroffen und auf seine ihm typischen Art und Weise über sie geschrieben, kurz, knapp, genau, schnörkellos. Seine Worte weiß er, der gelernte Autodidakt, immer präzise zu setzen.

Auf Frachtern zur See
Längst als Autor erfolgreich, fuhr er immer wieder auf verschiedenen Frachtern zur See, erkundet mit Entdeckerlust fremde Ufer, schrieb darüber voller Leuchtkraft und Lebendigkeit. Mit demselben neugierig-kritischen Blick durchmisst Walter Kaufmann die Spanne von neun Jahrzehnten in seinen packenden Lebensberichten, Prosastücke über bemerkenswerte Menschen.
Im Rückblick auf sein über 90 Jahre währendes Leben kann Walter Kaufmann zufrieden sein – als „Opfer“ hat er sich nie gesehen. Opfer, so sagt er, waren seine Eltern, die im Gas von Auschwitz erstickt seien.
„Voices in the storm“ ist sein Debütroman aus dem Jahre 1953, in viele Sprachen übersetzt, in dem er auch die Geschichte seiner Kindheit und Jugend erzählt. Kaufmann ist Verfasser von Romanen, Erzählungen in der Tradition der anglo-amerikanischen Short Stories. Für die Stoffe seiner Erzählungen greift er auf Erlebnisse aus seinem bewegten Leben in Europa und Übersee zurück. Seine Reportagen behandeln vor allem die von ihm bereisten Länder USA, Irland und Israel. Eine weitere Facette in Kaufmanns Schaffen bilden autobiografische Bücher über sein Schicksal als jüdischer Emigrant.
Die einfachen Menschen, denen er – zur See und zu Lande – begegnet, outcasts wie er, regen ihn zum Schreiben an. Seine Kurzgeschichten, seine realistische Prosa „treffen“, wie er sagt, „den Nerv der Zeit“ – berühren die Zeit.

Von Australien in die DDR
1956 siedelt er mit seiner Frau, einer Australierin, nach Berlin/DDR über. „Ich entschied mich für die DDR, weil ich am Aufbau eines sozialistischen Deutschlands teilhaben wollte. Eine andere Alternative gab es damals für mich nicht.“ Vorausgegangen war eine Einladung zu einem Schriftstellerkongress in der DDR. In Ostberlin wurde er mit offenen Armen aufgenommen und erhielt die Einladung, in der DDR zu bleiben. Er blieb, behielt gleichwohl seinen australischen Pass, was ihm ermöglichte, reisen zu dürfen. Die DDR sah er als Verkörperung eines anderen Deutschlands, das er als Jugendlicher verlassen musste. Als australischer Staatsbürger war er in der DDR nachgerade privilegiert. Vornehmlich seine Reisereportagen haben in der DDR hohe Auflagen, werden z. T. in viele Sprachen übersetzt. Zum Beispiel „Far Eastern Kaleidoscope“ (1957), „Drei Reisen ins Gelobte Land“ (1980).

Erst als erwachsener Mann begann Walter Kaufmann, nach seiner Herkunft, nach seinen leiblichen Eltern zu forschen. Vergeblich. Er findet zwar heraus, schreibt er in seinen späten Erinnerungen, dass sein eigentlicher Name Sally Jitzchak Schmeidler war. Schmeidler, Sohn einer zum Zeitpunkt der Geburt siebzehnjährigen, ledigen Mutter, Rachela Schmeidler, eine Verkäuferin im Kaufhaus Tietz, die in einer Kellerwohnung in der Mulackstraße mitten im Berliner Scheunenviertel wohnte. Das geht aus seiner Adoptionsurkunde hervor. Mehr hat er nicht herausgefunden, mehr weiß er nicht. Vermutlich stammte die leibliche Mutter aus Lodz. Über den leiblichen Vater hat er nichts herausfinden können. Doch da ist noch etwas Wesentliches: Wen er auch über das Schicksal seiner leiblichen Mutter befragt, er erfährt nur Widersprüchliches: Ging sie von der Großen Hamburger Straße in Berlin aus „auf Transport“ oder nicht? Genau weiß es keiner. Rachela Schmeidlers Leben endete früh, mit 35 Jahren, 1942 – im Gas von Auschwitz.

Christa Wolf bespitzelte ihn für den SED-Geheimdienst Stasi
Für zwei Erzählungen zieht er seine Stasi-Akten zu Rate. Auch wenn sich seine Romane und Reisereportagebände gut verkaufen, stoßen sie doch auch an die Grenzen der Zensur. „Staatsnah“ ist Walter Kaufmann in der DDR nie gewesen. Im Gegenteil: Die Stasi hat ihn im Visier. Beim Einblick in seine Stasi-Akte stößt er auf mindestens 20 Decknamen. Er wird von einer prominenten Schriftstellerkollegin bespitzelt – Christa Wolf alias „IM Margarete“. In einem Leserbrief an das Polit-Magazin „Der Spiegel“ verwahrte Kaufmann sich jedoch dagegen, dass man die „Margarete“ Wolf von einst gegen die Christa Wolf von später ausspielte. Das mag ihn ehren. (…)

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