Oktober 5, 2015 – 22 Tishri 5776
Eine moralische Instanz

image

Alexander Brenner wird 90 Jahre alt  

Von Michail Rumer

Von der Redaktion: Heute, am 28. Oktober, ist Dr. Alexander Brenner von uns gegangen. Wir haben mit ihm viele Jahre eng zusammen gearbeitet und gute menschlichen Kontakten gepflegt. Er wird uns sehr fehlen.

Wie kompliziert und unvorhersehbar das jüdische Schicksal doch sein kann! Der Knabe, der in 1930 Jahren in einer kinderreicher jüdischen Familie in Polen aufwuchs, hätte sich wohl kaum vorstellen könne, dass für ihn eine Zukunft als Wissenschaftler, Diplomat und öffentliche Person vorgesehen ist, dass er mehrere Länder bereisen und sich mit vielen mächtigen Menschen treffen wird, dass sein Leben so lang und so interessant sein würde.

Aber genau so ist das Leben von Dr. Alexander Brenner, der im Oktober seinen 90. Geburtstag in Berlin feiern wird. An diesem Tag wird er Gratulationen und Glückwünsche nicht nur aus Deutschland bekommen, sondern auch aus Israel, Russland und vielen anderen Ländern, mit denen sein Werdegang verbunden war.

Das Städtchen Tomaszow Lubelski, wo Alexander Brenner geboren wurde, war ein Schtetl, wo die Hälfte der Bevölkerung jüdisch war. Darunter auch die Familie des bescheidenen Zeitungsverkäufers Moissej Brenner. Das waren Zeiten regen Lebens in jüdischer Gemeinschaft. Jüdischen Sozialisten und Zionisten, Chassidim und Kommunisten, Verfechter von Jiddisch und Hebräisch – sie alle lagen im Streit miteinander, jeder hat seine eigene Vision für die Zukunft.

Aber die Geschichte hat sehr bald ihr Urteil gesprochen: Am 1. September 1939 begann der Zweite Weltkrieg, dieWelt wurde wieder – dieses Mal gemäß dem Molotow-Ribbentrop-Pakt – geteilt und Tomaszow Lubelski gehörte plötzlich zu dem von den Deutschen besetzten Gebiet und lag sieben Kilometer von der Demarkationslinie entfernt. Viele Juden der Stadt, unter anderem auch Familie Brenner, flohen in die sowjetisch besetzte Zone Polens und wurden ein Jahr später ins Altaigebiet, in die kalte russische Taiga deportiert.

Man könnte denken, es gibt nichts schlimmeres als Zwangsarbeit als Holzfäller im kalten Sibirien. Aber für viele war das gerade ihre Lebensrettung. Viel später, in den 1970er Jahren, macht der Mitarbeiter der BRD-Botschaft in Moskau, Alexander Brenner, einen Umweg auf einer Urlaubsreise und besucht TomaszowLubelski, wo es fast keine Juden mehr gibt. Sie waren alle im Feuer des Holocaust verbrannt worden. Dem aufmerksam beobachteten Besucher mit Mercedes blieb nichts anderes übrig, als mit tiefem Seufzen durch die bekannten Straßen zu laufend, eintauchend in seine Kindheitserinnerungen.

Das Leben im Altaigebiet war kein Zuckerschlecken. Alexander behielt bis heute das damaliges Tagessoll im Gedächtnis – 3,5 Kubikmeter. Nur wer das geschafft hat, bekam 400 Gramm Brot.

Und wieder trafen die wichtigen Leute in den Welthauptstädten eine Entscheidung, die auch das Schicksal der Familie Brenner veränderte. Im Dezember 1941 kam der Ministerpräsident der polnischen Exilregierung, General Sikorsky, nach Moskau. In den Gesprächen mit Stalin hat er die Freilassung der deportierten polnischen Bürger erreicht.

Die Brenners lassen sich in der nächsten Stadt – Bijsk – nieder. Der Vater findet dort eine Stelle, Alexander besucht die Schule und absolviert sie später mit der Goldmedaille. Jahre später besuchte er Bijsk erneut, fand seinen Schulkameraden und seine nun sehr betagte Deutschlehrerin. Das Altaigebiet und die dortige Schule hat ihm nicht nur Russisch beigebracht, das er genauso gut spricht wie Polnisch, Deutsch, Jiddisch und English. Diese Deportation brachte ihm eine tiefes Verständnis für das Drama der russischen Geschichte, das viel später wichtig wurde, als Alexander Brenner die Jüdische Gemeinde zu Berlin leitete. Die Gemeinde hat damals mehrere Tausend sowjetische Juden aufgenommen, und Brenner verstand damals besser als viele anderen Alteingesessenen, was diese Menschen durchmachten und welche Unterstützung sie brauchten.

Als wir 2002 in seinem Büro des Gemeindevorsitzenden darüber gesprochen haben, sagte er: „Ende 1980er, Anfang der 1990er fing die Zuwanderung der sowjetischen Juden an, die heute die Mehrheit der Gemeinde stellen. Deren Integration stand ganz oben auf der Tagesordnung. Man musste dabei aber Folgendes bemerken: Im Unterschied zu den deutschen Juden, die in der deutschen Kultur verwurzelt waren, und den alten osteuropäischen Juden, die in der Welt des Jiddischen gelebt haben, waren die sowjetischen Juden 70 Jahre lang von ihren Wurzeln, ihrer Religion und Kultur getrennt. Sie haben zwar ein sehr hohes Bildungsniveau, kennen Puschkin und Lermontov, Goethe und Schiller, Shakespeare und Zola, haben aber nur sehr punktuelle Vorstellungen vom Judentum. Und wir versuchen, diese Verbindung wiederherzustellen. Für die Kinder und Jugendlichen haben wir eine jüdische Schule und das Gymnasium. Für ältere Leute gibt es Sprachkurse – sowohl für Deutsch als auch für Hebräisch. Wir haben eine eigene Volkshochschule. Und wir sind froh, dass die junge und relativ jungen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion ihren Weg zum Judentum finden.“

Aber zurück ins Jahr 1946! Nach dem Krieg – wieder die Viehwagen und Rückreise nach Polen. Aber nicht zu der durch den Holocaust verwüstete Heimatstadt, sondern in neue Länder – nach Stettin. Und gleich nach dem Grenzübertritt antisemitische Parolen, die Steinwürfe und die Nachricht von einem anti-jüdischen Pogrom im polnischen Kielce (wohlgemerkt, die deutschen Besatzer waren schon längst fort!).

„Heute erinnern sich nur wenige daran“, sagt Alexander Brenner, „aber damals hat das einen verheerenden Eindruck gemacht: nach dem Holocaust hat ein polnischer Mob die wenigen verbliebenen Juden gejagt. Und damals hat die jüdische Emigration gen Westen angefangen. Zuerst nach Deutschland in DP-Lager, um später in die USA oder nach Palästina auszureisen. 90 Prozent haben das auch geschafft, und 10 Prozent, zu denen auch ich gehöre, sind aus unterschiedlichen persönlichen Gründen hier geblieben und haben die jüdischen Gemeinden in Deutschland wieder aufgebaut.“

Die Brenners kamen in ein DP-Lager (Displaced Persons) nach Bayern. Aber Alexander wollte unbedingt studieren. Das tat er auch – zuerst an der Universität Erlangen und später an der TU Berlin. Seine Familie wanderte in den Staat Israel aus, der kurz zuvor ausgerufen wurde.

Alexander Brenner absolvierte sein Studium, promovierte, wurde zum anerkannten Fachmann auf dem Gebiet der Radiochemie, leitete ein Forschungslabor. Jedes Jahr besucht er Israel, um sich mit der Schwester zu treffen und die Elterngräber zu besuchen.

Anfang der 1970er beginnt die diplomatische Karriere von Alexander Brenner. 1971 bis 1975 arbeitete er in der Botschaft der BRD in Moskau, danach leitete er die internationale Abteilung des Forschungsinstituts in München, arbeitete als Vertreter des Bundesforschungsministeriums im Berlin. 1982 bis 1990 war er der Wissenschaftsberater der BRD-Botschaft in Israel. Nach der Revolution von 1989 nimmt Dr. Brenner an der Abwicklung der Akademie der Wissenschaften der DDR teil, danach arbeitet er wieder in der deutschen Botschaft in Moskau, vertritt die EU beim Internationalem wissenschaftlich-technischen Zentrum, das die EU und die USA zur Unterstützung der Nuklearforschung in Russland geschaffen haben mit dem Ziel, die besten Spezialisten von der Idee abzubringen, nach Iran, Irak oder Libyen abzuwandern.

Seit dem Jahr 1997 ist Alexander Brenner Rentner, aber richtiger Ruhestand war es nie. Vier Jahre später wurde er zum Vorstandvorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin gewählt. Er lehnt jede Bezahlung ab und tritt seinen neuen Posten mit dem Ziel an, vieles in dem Gemeindeleben zum Besseren zu verändern. Die Aufrichtigkeit seiner Pläne bezweifelte niemand, nicht einmal seine Opponenten.

Auch nach seiner Zeit als Gemeindevorsitzender wurde Alexander Brenner immer in die Repräsentantenversammlung gewählt – und immer mit dem allerbesten Stimmergebnis. Er ist nicht nur der älteste Mitglied des Gemeindeparlaments, sondern auch eine moralische Instanz, ein prinzipientreuer Mann.

Im Vorfeld der bevorstehenden Gemeindewahlen sprechen wir über die heutige Situation der Berliner Gemeinde. Mein Gesprächspartner ist sehr vorsichtig bei seinen Einschätzungen. Man merkt ihm seine langjährige diplomatische Erfahrung an. Aber er bemerkt, dass die Opposition, die am Anfang den Vorstand und deren Vorsitzenden, Gideon Joffe, scharf angegriffen hat, jetzt ruhiger geworden ist. Im Moment ist es schwer zu sagen, ob es auch im Wahlkampf so bleibt, aber bis jetzt hatte die Opposition nicht viel zu bieten.

„Als Verdienst des Gemeindevorstandes sollte man anrechnen, dass er den Berliner Senat endlich dazu bewogen hat, die genaue Summe der Auszahlungen laut Staatsvertrag zu beziffern“, sagt Brenner. „Das Verwaltungsgericht hat unsere Sichtweise bestätigt, und seit dem Jahr 2015 bekommt die Gemeinde mehr Geld, was uns erlaubt, die Lehrergehälter zu erhöhen und einige andere dringende Finanzfragen zu lösen. Ein weiterer lobenswerter Umstand ist, dass der Vorstand wieder gute Zusammenarbeit mit den russischsprachigen Klubs pflegt, was für den Ausgang der Wahlen von Bedeutung sein könnte.“

Im Großen und Ganzem tendiert mein Gesprächspartner dazu, die Arbeit der Gemeindeleitung als positiv zu bezeichnen. Aber vorhersagen wie die Dinge sich entwickeln, möchte auch er nicht. Und trotzdem sind seine Einschätzungen – des Gemeindeältesten und des Mannes mit der makellosen Reputation – sehr viel wert. Und möge er, wie wir Juden sagen, 120 Jahre alt werden!

Komplett zu lesen in der Druck- oder Onlineausgabe der Zeitung. Sie können die Zeitung „Jüdische Rundschau“ hier für 39 Euro im Papierform abonnieren oder hier ein Onlinezugang zu den 12 Ausgaben für 33 Euro kaufen.


Sie können auch diesen Artikel komplett lesen, wenn Sie die aktuelle Ausgabe der "Jüdischen Rundschau" hier online mit der Lieferung direkt an Sie per Post bestellen oder jetzt online für 3 Euro statt 3,70 Euro am Kiosk kaufen.

Brief an die Redaktion schreiben

Soziale Netzwerke