Herr Juratovic, am 6. Juni wurde im Bundestag über die Erklärung Bosnien-Herzegowinas, Serbiens und Mazedoniens zu sicheren Her- kunftsländern beraten. Der Gesetzentwurf hat eine Asylverfahrensbeschleunigung und somit eine schnellere Ausweisung der Einwanderer zum Ziel. Wie stehen Sie, als Außenpolitiker und Berichterstatter für Südosteuropa sowie als Integrationsbeauftragter der SPD-Bundestags- fraktion zu diesem Thema?
Dieses Thema ist sehr komplex. Von der Ge- setzgebung sind vor allem die südosteuropä- ischen Roma betroffen. Sie flüchten weniger wegen politischer Verfolgung, sondern wegen Diskriminierung und Armut. Dies sind wie- derum keine Gründe, um politisches Asyl in Deutschland zu bekommen. Als Länder mit EU-Beitrittsperspektive müssen Serbien, Ma- zedonien und Bosnien-Herzegowina selbst den Minderheiten Schutz gewährleisten und ihnen ein Leben in Würde bieten. Trotzdem bin ich der Meinung, dass Asyl-Anträge individuell geprüft werden sollen und dass wir uns euro- paweit darum kümmern müssen, den Roma soziale Sicherheit zu geben. Mir ist es wichtig, dass in Deutschland und in Gesamteuropa die Minderheitenpolitik ernst genommen wird.
Kroatien und Slowenien sind schon der EU beigetreten. Sind die restlichen Ex-jugoslawi- schen Länder ebenfalls auf einem guten Weg, Mitglieder der europäischen Familie zu werden?
Ich habe mich vor ein paar Jahren im Bun- destag sehr für den Beitritt Kroatiens engagiert. Dies werde ich auch für die weiteren südosteu- ropäischen Länder tun. Gerade der EU-Beitritt Serbiens ist ein Garant für die Stabilität und den Frieden in der ganzen Region. Jedoch soll- ten wir nicht außer Acht lassen, dass es in vie- len Ländern des Westlichen Balkans neben der wirtschaftlichen Krise auch schwerwiegende andere Probleme gibt, wie Korruption und die Missachtung von Freiheits- und Menschen- rechten. In Mazedonien gibt es keine klare Trennung zwischen der führenden Partei und dem Staat. Medien, Justiz und Verwaltung wer- den dort maßgeblich kontrolliert. Die Stärkung der unabhängigen Justiz auf dem Westbalkan ist unbedingt erforderlich. Außerdem müssen allen Menschen die gleichen Rechte einge- räumt werden: Nach dem Dayton-Friedensab- kommen können sich in Bosnien und Herze- gowina nur Menschen der drei konstitutiven Völker, der Serben, Kroaten und der Bosniaken, für das Amt des Präsidenten bewerben. Juden und Roma sind davon rechtlich ausgeschlos- sen. Deshalb müssen wir uns für demokratische Werte und für die baldige Umsetzung der Kapi- tel 23 und 24 (Justiz, Grundrechten und Innere Sicherheit) in der gesamten Region einsetzen. Es muss unser aller Interesse sein, diesen Pro- zess zu beschleunigen, damit im Westbalkan Frieden gesichert wird und Stabilität einkehrt.
Inwiefern wird die Roma-Bevölkerung im Westlichen Balkan diskriminiert?
Ich denke, dass die europäischen Roma im Rechtssystem gleichberechtigt sein sollten und in unserer Gesellschaft auch gleichwertig be- handelt werden müssen. Auf dem Westlichen Balkan gibt es immer noch starke Vorurteile gegen die Roma. Sie werden als «Diebe» oder gar «Kinderräuber» beschimpft. Sie führen ein unwürdiges Leben in Arbeitslosigkeit und sind in Armenvierteln zusammengepfercht, wo es meist keine Wasser- und Stromversorgung gibt. Daher müssen sich die Verhältnisse vor Ort ändern. Die dortigen Politiker müssen daran arbeiten, Vorurteile gegenüber den Roma abzubauen und sie nicht wie Menschen zweiter Klasse behandeln.
Europaweit gibt es verstärkt rechtsorientierte Parteien und Strömungen, die sich öffentlich ge- gen Minderheiten in ihren Ländern, wie z. B. ge- gen die Roma und gegen Juden, bekunden. Wie erklären Sie den verstärkten Antisemitismus und Antiziganismus in Europa?
Dieser Trend ist leider eine Folgeerscheinung der wirtschaftlichen Krise und der ansteigenden Arbeitslosigkeit. Rechtsorientierte Politiker ha- ben schon immer mit den Ängsten und Gefühlen der Menschen gespielt, und diese können gerade dann für Fremdenfeindlichkeit aktiviert werden, wenn politische Instabilität herrscht oder eine lang andauernde wirtschaftliche Krise das Land erschüttert. Die Dämonen der Vergan- genheit sind, wie wir sehen, in den Köpfen eini- ger Menschen immer wieder abrufbar.
Sie sind selbst als Migrant nach Deutschland gekommen, heute sind Sie Abgeordneter im Bundestag. Ein im Prinzip traumhafter Verlauf von Integration. Ist das typisch für Ihre Zuwan- derergruppe?
Ich würde nicht sagen, dass das gerade für meine Zuwanderungsgruppe typisch ist. Es gibt viele Kroaten und auch andere Migranten- gruppen, die sich in Deutschland recht schnell nach ihrer Ankunft in den 1970er Jahren inte- griert haben. Andere Personen wiederum sind über Jahre ausschließlich in ihren «communi- ties» geblieben und hatten wenig Kontakt zur deutschen Gesellschaft aufgebaut – auch des- wegen nicht, weil das Ziel der deutschen Politik und Gesellschaft nicht die Integration der Ein- wanderer war. Das hat sich spätestens seit der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder verändert. Viele Menschen haben dann akzep- tiert, dass Deutschland zum Einwanderungs- land geworden ist und dass Integration geför- dert werden sollte.
Wie ging es Ihnen, wenn Sie die vielen wider- sprüchlichen Entwicklungen und vor Jahren auch sehr kriegerischen Zustände in Ihrer eins- tigen Heimat – Jugoslawien beziehungsweise Kroatien – nach dem Ende des Kalten Krieges verfolgt haben?
Es war eine schwierige Zeit für uns alle. Ich persönlich war entsetzt festzustellen, zu welchen Grausamkeiten Menschen fähig sind, wenn ein funktionierendes System aus den Fugen gerät. Und doch konnte ich bei den meisten Menschen Herzlichkeit und Solidarität verspüren. Von Deutschland aus haben wir versucht zu helfen, wo wir konnten. Ich zum Beispiel habe viele Flüchtlinge aus Bosnien und Herzegowina für einige Jahre in mein Haus aufgenommen. Ich gründete außerdem, innerhalb der IG-Metall, die Organisation «Novi Most – Neue Brücke» in der sich alle Ex-Jugoslawen zusammenge- schlossen haben, um nach friedlichen Alterna- tiven zu den bewaffneten Konflikten zu suchen.
Glauben Sie, dass Deutschland mehr Bürger- kriegsflüchtlinge aus Syrien aufnehmen sollte?
Das Interview führten Rahel KISCH und Olaf GLÖCKNER
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