November 3, 2017 – 14 Heshvan 5778
100 Jahre Balfour-Erklärung

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Ein Meilenstein auf dem Weg zum jüdischen Staat  

Von Peter Sichrovsky

Alles begann mit einem einfachen Brief. Der britische Außenminister Arthur James Balfour sandte am 2. November 1917 folgendes Dokument an Lionel Walter Rothschild, den 2. Baron Rothschild und prominenten Vertreter der Zionisten in England:

„Verehrter Lord Rothschild,

die Regierung Seiner Majestät betrachtet mit Wohlwollen die Errichtung einer nationalen Heimstätte für das jüdische Volk in Palästina und wird ihr Bestes tun, die Erreichung dieses Zieles zu erleichtern, wobei, wohlverstanden, nichts geschehen soll, was die bürgerlichen und religiösen Rechte der bestehenden nicht-jüdischen Gemeinschaften in Palästina oder die Rechte und den politischen Status der Juden in anderen Ländern in Frage stellen könnte.
Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie diese Erklärung zur Kenntnis der Zionistischen Weltorganisation bringen würden.“

Die Erklärung des britischen Kabinetts stützte sich auf das Dokument des 1. Zionistischen Kongresses in Basel (1897), in dem eine Heimat für das in der Welt verstreute Volk der Juden gefordert wurde. 20 Jahre später gab es nur diesen einen Brief, kein Land und keinerlei Zusagen, weder von einem der arabischen Herrscher noch von einer der europäischen Regierungen.

Chaim Weizmann
Chaim Weizmann, später der erste Präsident Israels, lebte während des Ersten Weltkriegs als angesehener Chemiker in Manchester und leitete das Munitionslabor der britischen Admiralität. Zahlreiche seiner Entwicklungen halfen der britischen Armee, wie z.B. die enzymatische Synthese von Aceton, einer der Grundstoffe für das rauchlose Schießpulver Kordit, das entscheidend für den Sieg der Alliierten war.

Weizmann verglich diesen Brief, der weder ein rechtlich gültiges Dokument noch eine international Vereinbarung war, mit einem Kamel, das in ein Zelt wollte, immer wieder abgewiesen wurde, doch langsam und vorsichtig zuerst ein Bein, dann das zweite vorschob, bis es ganz hineinschlüpfte.

Der Brief löste schon damals Begeisterung, aber auch Kopfschütteln aus. Selbst in den zionistischen Organisationen war man sich nicht einig, wo der neue Staat der Juden entstehen könnte, und es gab auch starke Strömungen, dass jede jüdische Gemeinde in ihrem eigenen Land eine sichere Basis schaffen sollte.

Der österreichisch-ungarische Schriftsteller Arthur Koestler kritisierte den Brief, in dem „eine Nation einer zweiten feierlich das Land einer dritten versprach“.

Der Hintergrund des Briefes war sicherlich nicht das wohlwollende Interesse der Briten den Juden eine Heimat zuzusichern. England hatte keinerlei Rechte an dem Land, das den Juden versprochen wurde und auch keine lokalen strategischen Interessen. Es ging damals in dieser schwierigen Phase des Ersten Weltkriegs um internationale Machtspiele, vor allem darum, sich die Unterstützung der jüdischen Bevölkerung in den USA und Russland zu sichern, sodass beide Länder aktiv auf Seiten der Alliierten weiterkämpfen würden. Deutschland, Österreich-Ungarn, Bulgarien und das Osmanisch-Türkische Reich standen den Alliierten England, Frankreich, Belgien, Russland und Italien gegenüber, und 1916/17 war die militärische Lage noch ziemlich ausgeglichen. Mit der vagen Zusage eines zukünftigen jüdischen Staates, die rein juristisch keine Bedeutung hatte, hoffte man auf die Einflussnahme der Juden zugunsten der Alliierten.

Wollten die Deutschen ihre eigene „Balfour-Deklaration“ veröffentlichen?
Kurioserweise drängten einige Vertreter in der britischen Regierung (unter ihnen auch Winston Churchill) darauf, diesen Brief zu schreiben, weil das Gerücht die Runde machte, dass ausgerechnet Deutschland ähnliche Ideen hätte, um sich die Unterstützung einflussreicher Vertreter der jüdischen Bevölkerung zu sichern. Die erste Idee für diesen Brief kam übrigens nicht von den Briten, sondern die Franzosen schlugen ihn schon im Juli 1917 vor.

Dutzende Historiker und selbst begeisterte Zionisten kritisierten später diese übertriebene Erwartungshaltung als eine Form des Antisemitismus und nicht als Großzügigkeit gegenüber dem jüdischen Volk. Der Einfluss der Juden sei maßlos übertrieben und überschätzt worden, sie hätten weder in den USA noch in Russland die Macht gehabt, in irgendeiner Weise auf die Regierenden einzuwirken. Eine Theorie nannte als Grund für die Balfour-Deklaration die angebliche Furcht der Briten, dass sich Frankreich im Mittleren Osten nach dem Ende des Krieges zu stark ausdehnen würde, und ein Judenstaat dies verhindern könnte.

All die komplizierten Theorien und internationalen Sandkastenspiele missachteten eine andere, ganz einfache Erklärung: Die Genialität eines russischen und eines polnischen Juden, Weizmann und Sokolow.

Weizmann kam erst 1904 nach England und wurde in wenigen Jahren eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in Großbritannien. Nach Aufzeichnungen aus seinem Nachlass und seiner Biographie arbeitete er vier Jahre lang als Leiter der Zionisten Großbritanniens an dieser Unterstützungserklärung der britischen Regierung. Er konzentrierte seine Aktivitäten nicht nur auf die einflussreichen politischen Kreise, sondern es gelang ihm auch den jüdischen Adel für die Idee zu gewinnen – wie die Familie Rothschild zum Beispiel, die zu Beginn wenig Interesse an einem jüdischen Exodus hatte und ihr Imperium sehr erfolgreich in England, Frankreich, Deutschland und Amerika aufgebaut hatte.

Nach der UNO-Erklärung zur Staatsgründung Israels wurde Weizmann zum Präsidenten gewählt. Er starb 1952 und unzählige Straßen, Gebäude, Institute, Universitäten und Ehrungen sind nach ihm benannt. Er ist und bleibt der Vater und Gründer des jüdischen Staates und nach dem Begründer des Zionismus, Theodor Herzl, sicherlich der bekannteste und auch populärste Held der modernen jüdischen Geschichte.

Unterschätzter Sokolow
In Tel Aviv gibt es eine Sokolow-Straße und ein Gebäude mit dem Namen Beit Sokolow, in dem die Vereinigung der Journalisten Israels sitzt. Dann gibt es noch einen Sokolow-Preis für Journalismus, der jedes Jahr verliehen wird. Doch kaum jemand kennt die Geschichte dieses Mannes. Auch nicht in Israel. Als er 1956 auf dem Ehrenfriedhof „Mount Herzl“ begraben wurde, fragten die meisten Gäste: Wer war dieser Nahum Sokolow? Bis heute gibt es keine Biographie über ihn.

Um 1860 in Polen geboren (ein genaues Geburtsdatum ist nicht bekannt), wuchs er in einem jüdisch-orthodoxen Haus auf und begann sehr früh, sich durch Selbststudium eine breite Allgemeinbildung anzueignen.

1880 brach er aus dem orthodoxen Schtetl aus und zog nach Warschau, übernahm die Chefredaktion der jüdisch-hebräischen Zeitschrift Ha-Zefira und war sehr bald der bekannteste jüdische Journalist in Europa und Amerika. (…)

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